#1

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 14.08.2012 19:15
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Ravi ist eine Stadt der Menschen und wie alle Städte der Menschen gewachsen aus dem Handel, auch wenn das bei Ravi noch ausgeprägter ist, als bei den meisten anderen. Ravi ist die Stadt, in der die Schiffe vom Langen See anlegen und die Karawanen in die Wüste Hislark aufbrechen. Jeder Händler aus dem Norden, der Handel mit den Elfen und den südlicheren Zwergenstädten treiben will, muss hier durch, ob er nun will oder nicht.
Denn wo Händler sind, da ist viel Geld, und wo viel Geld ist, da ist das Gesindel. Ravi ist eine Stadt der Menschen und wie alle Städte der Menschen chaotisch, laut, überfüllt, schmutzig und vor allem nachts gefährlich, und Ravi ist noch chaotischer und gefährlicher als die meisten anderen.
Das eine liegt daran, dass es eine junge Stadt ist, entstanden nach den letzten Völkerkriegen und dann gewuchert wie ein Pilz. Es verfügt über keinerlei Stadtmauer, keine Abwasserrinnen und kein System. Die meisten Gebäude sind kaum mehr als Holzhütten, nur um den Hafen stehen festere Lager- und Wirtshäuser, der Hafen selbst ist ein Gewirr von hölzernen Stegen, ohne nennenswerte Befestigung, und bei Regen verwandeln sich sämtliche Strassen in Schlammgruben.
Hinzu kommt, dass Ravi weder einen König noch einen Stadtrat hat, und die Kartelle, die einander wechselweise die Macht entreissen, kann niemand als Regierung bezeichnen. Das führt zum zweiten Punkt: Ravi ist ein Ort, an dem sich all diejenigen früher oder später wiederfinden, die den Norden aus triftigen Gründen verlassen mussten. Die einen ziehen weiter, die anderen gehen zurück, viele bleiben.
Ravi ist eine Stadt der Menschen und mehr noch als in anderen Städten findet man hier Reichtum und Abschaum dicht nebeneinander.

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Winter des Jahres 306

Ro sass in der Taverne und wärmte sich die Hände an einem Becher heissen Met. Bei der Schweinekälte draussen gab es nichts besseres.
Drei Tage war sie nun hier, hatte sich eine Matratze im Wirtshaus gemietet und versuchte sich von dem Marsch durch die Berge zu erholen. Es war ein langer, harter Weg gewesen. Auf den letzten Pässen hatte sie sich mehr als einmal gefragt, ob sie Ravi jemals erreichen würde, denn es hatte immer wieder geschneit und Schnee war tiefer und tiefer geworden, bis sie kaum noch vorankam. Aber sie hatte es geschafft. Sie war dort, wo sie hingewollt hatte, auch wenn sie eine Weile gebraucht hatte, um das zu begreifen.
Nach den Tagen der Einsamkeit in den Bergen mit nichts als Felsen und Schnee war Ravi wie eine andere Welt. Überall Menschen, nicht Dämonen, nicht Elfen, Menschen. Menschen mit all ihrem Chaos, ihrem Gestank, ihrem lauten Geschrei, ihrer Lebendigkeit. Im ersten Moment hatte es sie fast umgehauen, aber sie hatte schnell begonnen, sich heimisch zu fühlen, heimischer als sie sich in Drez jemals fühlen könnte, ganz zu schweigen von Orten wie Ladril oder gar Lovit.
Sie trank einen Schluck, blickte auf und sah einen Mann einen Tisch weiter sitzen. Er war vermutlich zwischen fünfundzwanzig und dreissig, seine blonden Locken waren schmutzig und verklebt, er trug einen verschlissenen Umhang und darunter einen ziemlich ramponierten Gambeson. Er blickte auf, sah sie und runzelte einen Moment die Stirn, dann machte er grosse Augen. "Du!"
"Ja, ich", sagte Ro grinsend.
Er stand auf. "Du lebst!"
"Natürlich lebe ich", sagte Ro und stand ebenfalls auf. Im nächsten Moment erstickte sie beinahe in Nesh's Umarmung.


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#2

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 14.08.2012 23:14
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie schnappte nach Luft und befreite sich lachend aus Nesh's Griff.
Er hielt sie auf Armeslänge von sich und meinte: "Du bist gewachsen."
Dann zog er sie, obwohl sie sich sträubte, noch einmal in eine Umarmung. Als er sie schliesslich losliess meinte er etwas verlegen: "Tschuldigung. Aber, Mann, Ro, ich hab mir damals solche verdammten Sorgen um dich gemacht!"
Sie sah ihn überrascht an. "Sorgen? Um mich?"
"Natürlich!", rief er und setzte sich auf die Bank gegenüber. "Du warst verdammt nochmal erst vierzehn. Und dein Vater tot und alles. Und dann am Morgen warst du einfach fort! Denkst du, da mach ich mir keine Sorgen?"
Nun war Ro verlegen. Sie musste zugeben, dass sie damals nicht daran gedacht hatte. "Um mich muss man sich keine Sorgen machen." Im selben Moment, als sie es sagte, wurde ihr bewusst, dass es eine Lüge war. Es gab vermutlich wenige Leute, um die man sich mehr Sorgen hätte machen müssen.
"Ich weiss, dass du kämpfen kannst", sagte Nesh. "Aber das ist nicht alles, was man können muss, um zu überleben."
Sie zuckte mit den Schultern.
Er liess sich ein Bier kommen, dann sah er sie erwartungsvoll an. "Und, was hast du gemacht, die letzten fünf Jahre?"
Sie erzählte. Sie erzählte von Nurmen und von dem Dieb. Sie wusste, dass sie Nesh das erzählen konnte, ohne dass er sie dafür verurteilte. Diebe waren auch nicht schlimmer als Söldner, nur feiger, und dass sie kein Feigling war, wusste er. Sie erzählte, wie sie die Karawanen begleitet hatte, von Ladril und Murgird. Die Magier liess sie aus, und sie erwähnte auch Drez nicht. Kein Mensch kannte Drez, nicht einmal sie hatte davon gewusst, bevor die Magier sie dahin geschickt hatten, und immerhin war ihr Vater von dort gekommen. Es gab nur sehr wenige Menschen, die überhaupt wussten, was Dämonen waren. Nesh war ebenso wenig einer von ihnen, wie er ein Pazifist war.
"Und was hast du gemacht?", fragte sie.
"Ich blieb im Heer", sagte er. "Bis der Krieg zu Ende war. Von da an, wo du fort warst, dauerte es noch etwa zwei Jahre, bis die letzte Stadt geschlagen war. Danach stellten sie dort einige Regimenter zur Überwachung auf, aber die Söldner wurden entlassen. Ich ging nach Osten, nach Jefra, aber der Krieg da war schnell fertig. Seither schlage ich mich durch, wie du. Mal hier einen Händler bewachen, mal da ein bisschen in den Gassen aufräumen und dafür Geld kassieren. Im Norden läuft zur Zeit einfach nichts. Die Zeiten sind viel zu ruhig für Leute wie uns."
Er prostete Ro zu und sie lachte. Sie fühlte sich, als hätte sie einen Bruder wiedergefunden.


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#3

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 15.08.2012 13:36
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Ro stütze den Kopf in die Hände. Am Vorabend war es spät geworden, und auch heute sassen sie und Nesh wohl bereits seit Stunden da und erzählten, von dem was sie erlebt hatten, Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit im Heer Nurmens, und neue Dinge, die danach geschehen waren. Nesh erzählte auch, soweit er es wusste, was aus den anderen geworden war, den Kameraden aus Hauptmann Ravens Sturmtruppe. Sie waren auf verschiedene Regimenter verteilt worden und einige waren später zusammen mit Nesh nach Jefra gegangen, aber danach verlor sich ihre Spur. Nesh vermutete, dass sie sich wie er mit kleinen Aufträgen irgendwie über Wasser zu halten versuchten, bis wieder ein Krieg ausbrach. Ro musste ihm recht geben. Kaum einer von ihnen würde es über sich bringen sesshaft zu werden und ein ehrliches Handwerk zu erlernen.
Sie sah Nesh an. "Und was hast du jetzt vor? Wohin gehst du als nächstes?"
"Ich weiss nicht", meinte er und drehte den Becher in den Händen. Dann blitzten seine Augen plötzlich auf. "Wir könnten Räuber werden. Solche, die die Händler überfallen."
Ro hob eine Augenbraue. "Zu zweit?"
"Hm, du hast Recht", meinte Nesh. "Zwei sind etwas wenige. Aber ich kenne ein paar Leute, die da vermutlich mitmachen würden. Oder zumindest weiss ich, wo man sie findet."
"Und was für Räuber?", fragte Ro. "Seepiraten?"
Nun hob Nesh eine Augenbraue. "Kannst du ein Schiff segeln?"
"Aber sicher doch", meinte Ro. "Ich kann alles."
Nesh sah sie einen Augenblick skeptisch an, dann konnte sie sich das Lachen nicht mehr verkneifen und prustete los. Lachend sagte sie: "Wenn du mich ans Steuer stellst, dann saufen wir in schon in der ersten Nacht ab."
Nesh lachte ebenfalls. "Dann wohl eher Landräuber. Was hältst du vom Wald?"


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#4

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 15.08.2012 22:24
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

"Wald ist gut", meinte Ro. "Kann man sich gut verstecken. Oder man kann von den Bäumen auf die Händler runterspringen." Sie stellte es sich vor und begann zu kichern.
"Was?", fragte Nesh und legte den Kopf schräg.
"Stell dir das mal vor", meinte sie grinsend. "Wie viele Versuche würden wir wohl brauchen, bis wir richtig treffen würden und nicht einfach im Dreck landen?"
Er hob eine Augenbraue. "Ich natürlich nur einen. Wie viele du brauchst, weiss ich natürlich nicht."
Sie bekam einen Lachanfall. Wie lange war es her, seit sie so gelacht hatte? Ewigkeiten. Fünf Jahre vermutlich.
Sie wurde wieder ernst. "Aber glaubst du echt, davon kann man leben?"
"Ich denke schon", meinte Nesh. "Sonst würden es nicht so viele Spinner tun. Ich meine, die Händler heuern ja nicht ohne Grund Schutzwachen an. Und ich schätze wir zwei können besser kämpfen als die meisten dieser Vagabunden."
"Natürlich", meinte Ro. "Sonst würden wir ja als Wachen nichts taugen."
"Hat was", pflichtete Nesh ihr bei.
Sie winkte nach der Schankmaid und liess zwei Bier bringen. Sie erinnerte sich an den Tag, als sie hier angekommen war. Vorallem die Schankmaid, aber auch der Wirt hatten sie sehr komisch gesehen. Unter Menschen war es eben nicht üblich, dass Frauen alleine umherzogen, und schon gar nicht mit Rüstung und Waffen. Aber sie hatte Geld, und Geld nahm man auch hier ohne nachzufragen.
Das Bier kam und Ro bezahlte beide Krüge. Nesh erhob keine Einwände, denn wie sie wusste, war er zur Zeit sehr knapp bei Kasse. Er lebte in einer heruntergekommenen Hütte bei einem Bekannten und hielt sich über Wasser indem er gelegentlich die Waren von Händlern bewachte, die über Nacht in der Stadt blieben. Als sie ihm gesagt hatte, dass sie in der Schenke eine Matratze hatte, hatte er sie mit grossen Augen gefragt, woher sie genug Geld dafür habe. Sie hatte ihm die Wahrheit gesagt. Zumindest fast. Sie hatte gesagt, dass sie es bei einem Turnier gewonnen hatte, das mit den Dämonen hatte sie natürlich weggelassen. Er hatte ihr die Geschichte sofort abgenommen und nicht weiter nachgefragt.
Sie trank einen Schluck und sah nachdenklich durch den Schanksaal. "Was braucht man denn da so, wenn man Räuber werden will?"


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#5

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 16.08.2012 18:14
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

"Hm", meinte Nesh und schien nachzudenken. "Ich denke, alles, was man braucht um im Wald zu überleben. Erstmal natürlich Vorräte. Ein paar Bögen, um zu jagen, Seile und so weiter. Zelte wären auch nicht schlecht, und Pferde. Ich weiss, wo man das meiste davon recht billig bekommt."
Ro sah Nesh nachdenklich an. "Wenn du die Leute kennst, und weisst, wo man die Ausrüstung kriegt, warum hast du das dann nicht schon längst gemacht."
Er schien zu zögern. "Weil immer noch etwas gefehlt hat", meinte er schliesslich. "Weisst du, um einen Haufen solcher Leute zusammenhalten, ich mein, Leute, die bereit sind Räuber zu werden, dazu braucht man mehr als nur ein bisschen Ausrüstung. Man braucht jemanden, der sie überzeugt, der sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun sollen, der sie notfalls herumkommandieren kann und dem sie gehorchen. Man braucht einen Anführer. Und das können nicht viele."
"Und du hast so einen gefunden?", fragte Ro skeptisch. Ihr gefiel die Vorstellung nicht sonderlich, sich von jemandem "herumkommandieren" zu lassen.
"Ja", meinte Nesh. "Oder zumindest bin ich mir sehr sicher."
"Und wer?", fragte Ro.
Nesh sah sie an, als wäre sie schwer von Begriff. "Du, wer sonst?"


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#6

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 17.08.2012 00:05
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie stellte ihren Humpen hin und fühlte sich völlig überrumpelt. "Ich... ich bin kein Anführer."
"Doch, das bist du", sagte Nesh. "Und glaub mir, ich hatte genügend unfähige Hauptmänner, um eine Ahnung davon zu haben."
"Aber ich... ich..." Sie verstummte für einige Augenblicke, denn das erste Gegenargument, das ihr einfiel, war erstens irrational und zweitens würde sie es Nesh unmöglich erklären können. Es war, was die Stimme gesagt hatte. Dass sie kein Anführer war. Allerdings... was wenn dieses Wesen sich nur auf das bezogen hatte, was gerade war? Sie war kein Anführer gewesen dort in der Höhle. Dort hatten Urakantor und Ran angeführt, sie war nur mitgelaufen. Aber das bedeutete nicht, dass sie niemals einer sein würde.
Dann fielen ihr noch eine Reihe logischerer Gründe ein, warum sie nichts taugte. "Ich bin zu jung", sagte sie. "Wer hört schon auf ein Mädchen?"
"Jeder, der das Mädchen einmal kämpfen gesehen hat", warf Nesh ein.
"Du hast selbst gesagt, kämpfen ist nicht alles, was man können muss", entgegnete Ro. "Und ich kann nichts anderes. Ich kann nicht organisieren, ich kann nicht planen, ich kann nicht vermitteln, ich kann keine Streite schlichten, aber das muss ein Anführer alles können. Und wenn ich dafür sorgen muss, dass meine Leute über die Runden kommen, dann verhungern und erfrieren wir nach einer Woche. Ich schaffs ja nichtmal, das für mich selbst auf die Reihe zu kriegen. Alle paar Tage verreck ich fast, weil ich einen dummen Fehler mache."
Sie liess den Kopf hängen und starrte in ihr Bier.
"Dafür hast du mich ja", meinte Nesh aufmunternd. "In der Armee ist ja auch nicht der Hauptmann der, der sich in erster Linie um die Versorgung kümmert, dafür hat er einen Quartiermeister."
"Du verstehst nicht", sagte Ro verzweifelt. "Ich könnte nicht einmal in einem Kampf auf meine Leute aufpassen. Du weisst wie ich kämpfe. Ich vergesse alles. Und was sonst läuft krieg ich erst wieder mit, wenns vorbei ist. Wie soll ich da so Entscheidungen treffen, dass meine Leute es überleben? Und stell dir vor unter den Typen bricht ein Streit aus. Glaubst du, ich kann da hinstehen und das in Ordnung bringen? Ich fang ja schon fast an loszuschlagen, wenn nur Spannung in der Luft liegt!"
Sie liess den Kopf auf den Tisch sinken.
Nesh sah sie eine Weile lang an, dann fragte er: "Denkst du, dein Vater war als Hauptmann anders? Er war genau so. Und er war verdammt nochmal der beste Hauptmann, den ich je hatte."


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#7

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 17.08.2012 13:49
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie hob den Kopf und begriff. Sie begriff, was Nesh sich wünschte. Dasselbe, wie sie sich wünschte, sich die ganzen letzten fünf Jahre gewünscht hatte. Zurück zu sein in Hauptmann Ravens Sturmtruppe. "Darez ist tot", sagte sie. Ihre Stimme klang heiser. "Und mit ihm die Sturmtruppe. Es ist vorbei, das weisst du."
Nesh schüttelte den Kopf. "Darez ist tot, aber nicht die Sturmtruppe. Wir leben und wir sind noch dieselben wie damals. Und es gibt viele andere. Du kannst sie zusammenrufen. Und sie werden dir folgen. Du bist Hauptmann Raven."
Sie schwieg einen Moment, bevor sie ihr Bier in einem zug austrank. Dann fragte sie: "Und was habe ich davon? Für mich wird es nicht so sein wie damals. Was habe ich davon, wenn er nicht mehr da ist?"
Ihre Stimme brach und sie versenkte den Kopf in den Armen, um die Tränen zu verbergen, die ihr plötzlich in die Augen schossen, doch das Zittern ihrer Schultern konnte sie nicht verstecken.
"Ro?", hörte sie Nesh unsicher fragen. Sie spürte, wie er eine Hand auf ihre Schulter legte und zuckte unwillkürlich zusammen. Schnell zog er die Hand weg. "Tut mir leid", sagte er. "Ich wollte nicht..." Er schien keine Wort für das zu finden, was er nicht gewollt hatte.
"Geht schon", sagte Ro erstickt. "Geht gleich wieder." Sie schämte sich dafür, mitten in einer Taverne einfach loszuheulen, aber sie konnte nichts dagegen tun. Es war zu stark. Was sollte sie tun ohne Darez Raven? Wie sollte sie jemals wieder unter Soldaten kämpfen können, wenn er nicht da war und dem Angriff vorausrannte?
"Tut mir leid, Ro", setzte Nesh nocheinmal an. "Du... du musst das nicht tun, wenn du nicht willst. Ich habe nicht daran gedacht, dass..."
Sie hob den Kopf und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Ich machs", sagte sie, und sie meinte es. Irgendwann musste sie aus seinem Schatten treten. Sie konnte nicht immer nur die Tochter des Raben sein. Sie musste selbst Rabe sein.


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#8

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 19.08.2012 19:35
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

etwa vier Wochen später

"Pave, zum Teufel, steh auf und beweg deinen Arsch, ich will das fertig haben, bis die Sonne untergeht!"
Ein mürrisch brummender Blondschopf mit einem Fell über den Schultern stand von seinem Baumstrunk auf und gesellte sich zu den Männern, die angespitzte Pfähle in den schneebedeckten Boden rammten.
"Ihr auch, los!", brüllte Ro den anderen zu, die bei ihm gesessen und mit ihm gewürfelt hatten. Sie gehorchten.
Ro hängte die kalten Finger an ihrem Gürtel ein und trat durch eine Lücke in dem lockeren Palisadenzaun, der langsam wuchs, auf die flache Anhöhe dahinter. Hier standen die Zelte und die Pferde waren an Pfählen angebunden. Die Pferde hatten sie der vorletzten Händlertruppe abgenommen, und im Gegensatz zu den Ochsen der letzten nicht gebraten, sondern als Lastenträger behalten.
Sei blickte sich um und sah, dass die Arbeiten fast so schnell voranschritten, wie sie wollte. Das war ihre Idee gewesen, nicht Nesh's wie die meisten anderen nützlichen. Die ersten zwei Wochen waren sie mit den Zelten von einem Ort zum anderen gezogen, aber nachdem zwei Männer krank geworden waren, hatte sie beschlossen, dass sie zumindest für den Winter eine Art festes Lager brauchen würden. Sie hatte eine weitere Woche gebraucht um einen geeigneten Ort zu finden, nicht allzu weit von der Strasse entfernt, aber weit genug, dass sich niemand dorthin verirren würde, etwas höher als das umliegende Gebiet und geschützt von einem dichten Mischwald.
Ansonsten war der Wald hier, nördlich von Ravi, eher licht, zumindest so weit unten. Er zog sich um die vierzig Meilen dem See entlang und bis weit hinauf in die Täler der Drachenberge. Die Strasse verlief nahe dem See, wich aber auch immer wieder zurück in Richtung der Bergen, wo ein Wasserlauf überquert werden musste, eine Schlucht oder Felsen den Weg versperrten. Sie war der Handelsweg zu den Dörfern und Städchen an der Westküste des Langen Sees gegenüber von Kor, wo die ewigen Winde von den Bergen her zu stark und die Ufer zu schroff waren, um mit grösseren Schiffen als Fischerbooten anzulegen. Allerdings waren dort einige sehr reiche Erz- und Silberminen, weshalb sich Handel durchaus lohnte, und das war auch der Grund, warum diese Dörfer überhaupt dort existierten, trotz des rauhen Wetters und der Verfluchten Wälder, die nur wenig nördlich davon drohten. Und natürlich war es der Grund, warum sich auch das Räubertum hier lohnte.
Irgendwo in ihrem Hinterkopf meldete sich die schwache Frage, ob Palisaden und einige Dächer reichen würden, um den Winter zu überstehen. In den letzten Tagen war ihr immer wieder klar geworden, wie verrückt ihr Unterfangen eigentlich war. Niemand begann im Winter Räuber zu werden, wenn kaum Handelskarawanen zogen. Man versuchte, den Sommer über genug Geld zu machen, dass man über den Winter kam. Sie hatten keine Vorräte und kein Geld, irgendetwas zu kaufen. Und doch spürte sie eine solche Sicherheit, als wären diese Probleme alles nur Nebensächlichkeiten. Sie wusste es würde funktionieren. Sie wusste es einfach.
Es erstaunte sie immer noch, wie viele Leute sofort mit ihnen gekommen waren. Sie hatte mit einigen wenigen gerechnet, aber nun waren sie fast vier dutzend, trotz dem Winter, trotz der Kälte, trotz der mageren Aussichten. Vermutlich hatte sie einfach unterschätzt, was ein Ruf ausmachen konnte, ein blosser Name. Der Name Raven. In Ravi waren viele ehemalige Söldner gelandet, und wer einmal in einem Heer im Norden gedient hatte, kannte die Legende von Darez Raven, dem Raben. Sie waren ihr allein schon deswegen gefolgt, weil sie seine Tochter war.

(Der Wald, den ich hier meine, ist auf der Karte nicht eingezeichnet)


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#9

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 19.08.2012 23:20
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie verlagerte das Gewicht ein wenig, um auf dem rutschigen Schnee einen festeren Stand zu haben. Wenn es los ging, musste sie mit einem Sprung über den Wall und durch das Gestrüpp sein. Überraschung war alles. Deshalb war diese Stelle fast perfekt. Ein gerades Stück Strasse, auf dem man weiter voraussah als auf den meisten anderen Abschnitten, und wo deshalb niemand mit einem Hinterhalt rechnete, dazu der niedere Wall auf beiden Seiten, gebildet von den Wurzeln der Bäume, die fast wie in Reih und Glied entlang standen, darauf Gestrüpp, so dicht, dass man sogar im Winter kaum hindurch sah. Sie hatten schmale Wege hineingeschlagen, um schnell auf die Strasse zu kommen. Allerdings würde der Ort im Sommer noch perfekter sein, denn dann würden die Äste, die sich über der Strasse kreuzten dichtes Blattwerk tragen, sodass man sich darin verstecken und von oben angreifen konnte.
Sie hörte sie lange, bevor sie sie sah. Das Knarren von Rädern im Schnee, die Schritte von Pferden oder Maultieren, das Klirren ihres Geschirrs, ihr Atem und der ihrer Reiter. Bei letzterem war sie sich nicht sicher, ob sie ihn wirklich hörte, oder nur weil sie wusste, dass er da sein musste. Die Kolonne kam in Sicht. Zwei Reiter ritten voraus, dann folgte ein Mann, der zwei Maultiere am Zügel führte, die wiederum einen hoch beladenen Karren hinter sich herzogen. Auf dem Kutschbock sass ein weiterer Mann. Dahinter folgten zwei weitere, gleiche Wagen, nur auf dem mittleren sassen zwei Männer. Sie waren auf dem Weg nach Norden, also würden sie Lebensmittel und andere brauchbare Dinge für die Minenarbeiter geladen haben. Die Wagen wurden flankiert von zwei Reitern und sechs Fusswachen, zwei weitere Reiter bildeten die Nachhut. Sie würden zuerst die Reiter erwischen müssen, denn die konnten sonst fliehen.
Ro wartete, bis die Spitze der Kolonne auf ihrer Höhe war, dann zog sie lautlos den Säbel. Nesh gegenüber sah sie durch eine Lücke im Gestrüpp und zog sein Schwert. Die knienden Bogenschützen auf beiden Seiten hoben ihre Bögen und spannten sie wie ein Mann, während sich die anderen auf den Sturm vorbereiteten. Das war es, was Ro am meisten überraschte, neben der Tatsache, dass die Leute ihr gefolgt waren: dass sie es geschafft hatte, aus diesem Haufen von ehemaligen Söldnern, Tagedieben und Bettlern innerhalb weniger Woche eine Einheit zu formen, die im Angriff genau so tödlich und effizient war, wie es Darez Sturmtruppe einst gewesen war, oder zumindest fast. Und vorallem hatte sie eines geschafft: dass sie still waren. So still, dass selbst Ro nur den Atem derer, die ihr am nächsten waren, hören konnte.
Sie schnitt mit dem Säbel durch die Luft und die Pfeile schossen auf ihre Ziele.


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#10

RE: Ravi (Südwestufer des langen Sees)

in Dreitan - das Spiel 20.08.2012 00:31
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Im selben Moment, als die Pfeile losflogen, sprang Ro. Ihre Männer folgten ihr mit einem halben Herzschlag Verzögerung.
Drei der Reiter hatten die Pfeile aus dem Sattel geholt und einer hing so schief, dass er vermutlich tot war. Ro war mit drei Schritten beim vorderen der beiden Übrigen, noch bevor er sich überhaupt realisieren konnte, dass der Feind eindeutig in der Überzahl war. Sie trat neben seinen Steigbügel, schob den Säbel dem Bein entlang unter sein Kettenhemd und stach mit der Kraft beider Arme zu. Der Soldat schrie und das Pferd bäumte sich auf. Ro wirbelte weg, um sich aus der Reichweite der Hufe zu bringen. Von ihrem Säbel spritzte Blut und anderes in den Schnee, hellrote Tropfen im Weiss.
Der Angriffsschrei ihrer Männer drang an ihre Ohren. Sie hatten den Kutscher und den Führer des vorderen Wagens bereits erledigt und waren dabei, die Soldaten, die sich um den zweiten geschart hatten, nieder zu machen. Der zweite Reiter sass noch im Sattel, doch er war eingekreist von einem halben Dutzend mit Spiessen und Schwertern, die nach ihm stocherten, und die er nur knapp noch abwehren konnte.
Ro wirbelte weiter und schnitt über die Flanke des Pferdes. Wieder bäumte es sich auf, und diesmal rutschte der Reiter aus dem Sattel und fiel in den Schnee. Sie durchbohrte mit einem Stich sein Panzerhemd und nagelte ihn einen Augenblick am Boden fest, bevor sie den Säbel wieder herausriss, gefolgt von einem Blutschwall. Sie sprang auf den Wagen zu und zerschlug die ledernen Teile des Geschirrs, das die scheunen Maultiere am Wagen hielten, damit sie ihn nicht mit sich rissen, falls sie durchgingen, dann sprang sie auf den Kutschbock, brüllte "Runter!", und flog über ihre eigenen Leute hinweg auf den zweiten Reiter zu. Ihre Wucht riss sie beide aus dem Sattel, doch sie traf ihn nicht mit der Klinge. Stattdessen krachte er auf den Boden und sie auf ihn, wobei sie ihm mit dem Ellbogen den Nacken brach.
Keuchend rollte sie sich weg, während ihre Männer auf den eigentlich bereits toten Reiter einstachen. Einen Moment stolperte sie, benommen vom Sturz, dann fing sie sich und lief zum mittleren Wagen, wo soeben der letzte Soldat in sein eigenes Blut fiel. Die beiden Männer auf dem Kutschbock waren noch am Leben, der eine stand und schwang ein Schwert. Der andere duckte sich und rief: "Erbarmen!"
Sie rannte zwei Schritte, um hoch zu springen.
"Erbarmen", rief der Mann. "Ich gebe euch, was ihr wollt."
Nur sehr langsam sickerten die Worte zu ihr durch. Sie bremste ab. Der Mann mit dem Schwert wurde von zwei Klingen gleichzeitig durchbohrt und sackte um, das Schwert fiel leblos zu Boden. Der hintere Wagen war bereits eingenommen. Ro hob die Hand, um ihren Leuten einhalt zu gebieten, und als niemand Notiz davon nahm, brüllte sie laut: "Halt, verdammt!"
Nun blieben die Männer stehen, wenn auch widerwillig. Sie trat einen Schritt auf den Mann zu, der vermutlich der Händler war, und fragte: "Was kannst du uns denn geben." Der Klang ihrer Stimme sagte ihr, dass sie wölfisch grinste.
"Alles was ihr wollt. Geld. Waffen", sagte der Händler hektisch, und die Angst in seiner Stimme war reinste Narung für das Feuer, das in ihr brannte.
"Wir haben Waffen", entgegnete Ro. "Und wenn wir deine Ware verkaufen auch Geld."
"Aber ich kann euch mehr geben", rief der Händler. Seine Stimme war nun schrill vor Angst, denn er hatte begriffen, dass sie überhaupt kein interesse hatte. Deshalb wandte er sich an die Männer. "Ich kann euch alles geben, was ihr wollt, ich kann..."
Er verstummte, als Ro ihm mit der Säbelklinge den Hals einritzte. "Wir verhandeln nicht mit fetten Schweinen", sagte sie kalt. "Wir schlachten sie."
Sie nickte ihren Männern zu und sie gehorchten ihr aufs Wort.


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