#1

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 27.09.2012 23:30
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Ende April des Jahres 307

Das Dorf lag ruhig, fast schläfrig in der Wärme der Nachmittagssonne. Ein Huhn gackerte irgendwo, zwei Kinder spielten im Sand, der das Seeufer säumte, ein alter Elf sass vor seinem hölzernen Haus und rauchte ein Pfeifchen. Gelegentlich gingen Leute die Strasse hinauf oder hinunter auf ihren alltäglichen Wegen, und der Alte grüsste sie.
Plötzlich kniff er die Augenbrauen zusammen und drehte den Kopf, als hätte er ein Geräusch gehört. Auch die Kinder blickten auf. Schritte. Schritte kamen auf der Strasse von Osten. Und es waren nicht die Schritte eines einzelnen Wandernden oder die Karrenräder eines Händlers. Es waren die Schritte von hundertzwanzig beschlagenen Stiefeln an den Füssen von Männern, die ihr Ziel kannten. Und dieses Ziel würde kein Gutes sein.
Jemand rief etwas, die Elfen liefen zusammen. Sie würden besser fortlaufen, dachte der Alte. Einige von ihnen hatten Messer am Gürtel, aber er wusste, dass sie nichts damit ausrichten konnten, würde es zu einem Kampf kommen. Zu lange hatte die Elfen hier in Frieden gelebt, so lange, dass sie nicht einmal mehr sahen, warum es notwendig sein konnte, sich verteidigen zu können.
Die Schritte kamen näher. Dann traten die Männer aus dem Wald. Es waren keine Soldaten. Es war ein Haufen abgerissener, halbverhungerter menschlicher Vagabunden, mit rostigen Helmen, verschlissenen Rüstungen und schartigen Waffen, die recht lose in ihren Scheiden hingen. Eine dunkle Gestalt ging ihnen voran, so stolz und sicher dass es niemand anderes sein konnte als der Anführer. Der Alte zuckte zusammen. Es war eine Frau. Und er hätte seine Pfeife darauf verwettet, dass die kein Mensch war. Das konnte nicht gut ausgehen.


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#2

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 28.09.2012 00:01
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie ging bis in die Mitte des Platzes und bedeutete ihren Männern hinter ihr stehen zu bleiben. Auf der anderen Platzseite hatte sich eine Schar Elfen versammelt, Männer und Frauen. Eine Fraue rief zwei Kindern, die am Wasser unten waren und sie rannten zu ihr. Ro wartete. Die Elfen musterten sie feindselig. Sie blickte gelassen zurück.
Schliesslich rief einer der Elfen: "Was wollt ihr hier?"
Ro lächelte spöttisch. "Was wohl? Ich schätze ein Blinder sieht, dass wir Hunger haben, oder nicht?" Das war leider eine Tatsache. Erstens hatte das Essen nicht so lange gereicht, wie sie gehofft hatten. Zweitens waren sie, kaum aus der Wüste, drei volle Tage in irgendeinem verlassenen Schuppen festgesessen, weil es so stark geregnet hatte, dass sie alle an Husten krepiert wären, hätten sie versucht, weiter zu gehen. Und drittens hatte es an dieser verdammten Nordküste dieses verdammten Sees bis hierher kein einziges verdammtes Dorf gehabt. Was zusammengefasst ergab, dass sie halb am verhungern waren. Und sie eigentlich überhaupt keine Geduld hatte, sich auf das gegenseitige Anschweigen der Elfen lange einzulassen.
"Also", sagte sie kalt. "Wir brauchen Essen. Und einige Dinge mehr. Ihr könnt sie uns freiwillig geben. Oder wir nehmen sie uns. Wenn ihr euch wehrt, bringen wir euch um. Soweit klar?"
Wieder schwiegen die Elfen. Dann rief einer von ihnen. "Was gibt euch das Recht, das zu tun?!"
"Nichts", antwortete Ro unbeindruckt. "Wir nehmen es uns einfach."
Ein junger Elf trat aus der Menge. "Das könnt ihr nicht tun! Ihr könnt nicht einfach hierher kommen und uns die Vorräte wegnehmen! Wir brauchen sie."
"Oh doch", meinte Ro spöttisch. "Das können wir."
"Und ihr glaubt, wir werden uns nicht wehren?", schrie der Elf. Einige der anderen versuchten ihn mit Zischlauten zum Schweigen zu bringen, aber er ging nicht darauf ein. "Ich lasse mich nicht einfach berauben. Ich werde kämpfen."
Ro's Lächeln wurde zu einem breiten Grinsen. "Das kannst du gerne tun." Sie fixierte ihn mit ihrem Blick, dem Blick eines hungrigen Wolfes. "Ich mach dir einen Vorschlag. Du kämpfst gegen mich. Wenn du gewinnst, ziehen wir ab. Wenn ich gewinne, dann hast du Pech gehabt."
Er wurde einen Moment lang bleich, als er sich fragte, was das Pech gehabt wohl genau bedeutete. "Aber...ich habe keine Waffe", stammelte er.
"Keine Angst", meinte Ro sarkastisch. "Wir geben dir schon eine. Ich mache keinen Zweikampf gegen jemand unbewaffnetes, das ist langweilig. Was willst du? Ein Schwert? Ein Dolch? Eine Axt?"
Der Elf schien wieder Mut zu schöpfen. Vermutlich dachte er sich, dass sie nur eine Frau war. Er trat vor und schüttelte die Hände ab, die ihn zurückhalten wollten. "Ein Schwert."
"Mach das nicht!", rief eine Elfe. "Das ist verrückt. Sie ist eine..." "Ich weiss, was sie ist", fauchte der Elf zurück. "Aber weisst du eine bessere Lösung?" Die Elfe schwieg. So, so, dachte Ro. Ein Held also.
"Ich bezweifle stark, dass du es wirklich weisst", sagte sie. "Arsa, gib ihm dein Schwert."
Arsa trat vor und reichte die Klinge dem Elfen. Er hob eine Augenbraue. "Willst du den Schild auch? Ich schätze, du könntest ihn brauchen."
Der Elf schüttelte den Kopf und schwang das Schwert probehalber. Die Art wie er es tat, liess Ro erkennen, dass er nicht ganz zum ersten Mal eine Waffe in den Händen hielt. Sie war ein Stück weit gespannt darauf, wie gut er sich schlagen würde. Sie hatte noch nie wirklich gegen einen Elfen gekämpft.


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#3

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 29.09.2012 00:08
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Der Elf umfasste das Heft des Schwertes mit festem Griff und stellte die Füsse so hin, dass er eine gute Balance hatte. Ro überlgte einen Moment, ob sie den Säbel gar nicht erst ziehen sollte, sondern ihn erstmal angreifen lassen, aber sie entschied sich dagegen. Es hatte keinen Wert, einen Gegner schon bloss zu stellen, bevor der Kampf überhaupt begonnen hatte, ausser man wollte ihn provozieren, und das war in diesem Fall nicht nötig.
Sie zog den Säbel mit einer lautlosen, schnellen Bewegung. Die Klinge blitzte auf im Sonnenlicht. Der Elf zuckte zusammen, doch sie griff nicht an, sondern nahm nur ihm gegenüber ebenfalls Gefechtshaltung an. Eine Weile lang taxierten sie sich. Ro fragte sich, wie alt der Elf war. Er sah jung aus, für einen Menschen um die zweiundzwanzig, aber sie wusste nicht, was das bei einem Elfen hiess. Vermutlich war er älter als sie selbst. Warum war sie es dann, die hier so abgeklärt dastand und wartete, während er versuchte seinen Mut zusammen zu nehmen. Die Antwort war nicht schwer. Sie hatte hunderte Male gekämpft und getötet. Er noch nie.
Sie umkreiste ihn mit weichen Schritten. Er drehte sich und wich zurück. Dann griff er an. Die ersten drei Angriffe wehrte sie mit blosser Technik ab, lenkte sie zur Seite und in den Boden. Hätte sie die Technik richtig ausgeführt, wäre er bereits tot gewesen, aber sie wollte nicht, dass es so schnell endete. Sie wollte ihm das Gefühl geben, er hätte eine reelle Chance. Gegen jemanden zu kämpfen, der annahm, dass er verlieren würde, war nicht interessant. Herausfordernd blickte sie ihn an. Los, zeig mir, was du kannst.
Seine nächsten Angriffe wurden schneller und die Schläge folgten dichter aufeinander. Sie wirbelte herum und begann, ins instinktive Kämpfen abzudriften. Dann griff sie selbst an. Er duckte sich unter dem Schnitt hindurch, parierte, als ihre Klinge eine Ebene tiefer zurückkehrte, und versuchte zu einem Stich zu winden, doch sie trat aus der Linie und auf ihn zu, sodass er sich mit einem Sprung in Sicherheit bringen musste. Er hatte irgendwo kämpfen gelernt. Er kannte die Techniken. Aber er hatte sie noch nie im Kampf angewandt. Und natürlich fehlte ihm der Instinkt der Dämonen. Sie grinste und griff abermals an.
Eine Weile lang gingen die Schläge hin und her. Der Elf schöpfte tatsächlich Hoffnung und wurde zuversichtlicher, wagte mehr. Ro liess ihren Körper kämpfen und langsam erwachte das Feuer in ihrem Blut. Es machte sie schnell, aber auch ungeduldig. Das ganze wurde ihr zu blöde. Schliesslich drosch sie mit einer schnellen Abfolge von Schlägen auf den Elf ein, er wich zurück und hielt das Schwert schützend über den Kopf, worauf sie ihm mit einer Drehung in den Bauch trat. Als er sich keuchen krümmte traf ihn der zweite Tritt an der Stirn und beförderte ihn zu Boden. Sie trat zu ihm hin und hielt ihm die Säbelspitze an die Kehle: "Das wars wohl, Elfchen. Pech gehabt."
Sie spürte seine Angst auflodern, denn er nahm an, dass sie ihn nun tötete. Und dann spürte sie etwas anderes. Sie reagierte bevor sie begriff. Ihre Klinge schnitt zischend durch die Luft und der Feuerstrahl zerfiel ihn nichts. Heisser Zorn loderte in ihr auf. Magie. Verdammter Hurensohn! Das Blut rauschte ihr in den Ohren. "Das war ein Fehler", knurrte sie und mit einer Bewegung schlitzte sie ihm die Kehle auf und versenkte die Klinge tief in seiner Brust.
Gurgelnd lag er da, während sich der staubige Boden rot färbte. Sie blickte langsam auf. Die Elfen starrten sie entsetzt an. "Er hätte leben können", knurrte sie. "Ich war nicht hier, um zu töten. Aber wer mich, oder meine Männer mit Magie angreift, den töte ich. Und wenn einer von euch..." Sie riss den Säbel aus der Brust des Elfen, und deutete mit der bluttriefenden Spitze auf die Runde. "Wenn einer von euch veruscht auch nur einen Funken von Magie zu verwenden, dann stirbt er, und zwar langsam."
Die Elfen schwiegen. Manchen von ihnen liefen Tränen über die Wangen. Ro verachtete sie. Dafür, dass sie einfach da standen und nichts taten. Dafür dass sie einen der ihren verrecken liessen ohne für ihn zu kämpfen. Sie spuckte aus. "Und jetzt gebt uns, was wir wollen, oder will noch jemand kämpfen?"


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#4

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 29.09.2012 00:36
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Ro starrte ins Feuer. In ihrer Hand war ein halb leerer Flachmann. Irgendwie hatte es die andere Hälfte des Inhalts geschafft getrunken zu werden, ohne dass Nesh versucht hatte, sie davon abzuhalten. Was vermutlich daran lag, dass er anderes zu tun hatte. Auf jeden Fall hatte sie ihn seit dem Essen nicht mehr gesehen. Nachdem er die Söldner dazu gebracht hatte, nicht einfach so viel essen in sich hinein zu stopfen, wie sie konnten, sondern sie zumindest teilweise überzeugt hatte, dass es keinen Sinn machte, etwas zu essen, nur um es nachher wieder auszukotzen, weil es zu viel gewesen war. Seine Hauptüberlegung dabei war, dass die neuen Vorräte einige Zeit reichen sollte, aber das war kein Argument, das bei einem Haufen hungriger Männer zog.
Die Elfen hatten getan, was sie verlangt hatten. Mit den neuen Vorräten waren sie zurück gegangen zu dem Ort, wo sie ihr Gepäck gelassen hatten, dann waren sie weitermarschiert, denn Ro wollte sichergehen, dass ihnen niemand folgte, um sich für den Raub, oder den Tod des Elfen zu rächen.
Sie trank einen Schluck aus dem Flachmann. Sie hatte den Elfen nicht töten wollen. Nicht nur dass es unnötig gewesen war, sie hatte es wirklich nicht gewollt. Er war ihr gar nicht so unsympathisch gewesen wie die meisten Elfen. Immerhin war er bereit gewesen zu kämpfen, und er war nicht der allerschlechteste Kämpfer, auch wenn es ihm massiv an Übung mangelte. Sein Mut hatte es nicht verdient, einfach so zu sterben, quasi hingerichtet vor den Augen seiner Familie. Sie hatte ihn nicht töten wollen. Sie hätte ihm vielleicht die Nase blutig geschlagen und ihm einen Tritt in den Hintern verpasst, aber sie hätte ihn Leben gelassen. Hätte er nicht zur Magie gegriffen. Er hatte ihr keine Wahl gelassen.
Aber stimmte das wirklich? Hatte sie wirklich keine andere Wahl gehabt, als ihn zu töten? Doch, sagte sie sich. Sie hätte ihn bewusstlos schlagen können. Keiner konnte mehr Zaubern, wenn er nicht mehr denken konnte. Aber andererseits auch Nein. Denn hätte sie ihn nicht dafür getötet, hätten vielleicht auch andere Elfen versucht, sie mit Magie anzugreifen. Und sie konnte sich zwar wehren, aber ihre Männer konnten es nicht. Deswegen hatte sie ihn getötet. Weil sie ihn dafür gehasst hatte, was er ihren Männern hätte antun können, hätte er sie mit Magie angegriffen. Sie hatte ihn getötet aus einem Reflex, um ihre Leute zu schützen.
Aber sie hatte ihn nicht töten wollen. Sie wollte nicht, dass er tot war. Sie wollte es wirklich nicht.

Als Nesh eine Stunde später zu Ro's Feuer trat, fand er sie vornübergesunken am Boden. Der leere Flachmann war ihrer Hand entglitten, die letzten Flammen spiegelten sich darin. Er seufzte und steckte den Flachmann ein, dann beugte er sich zu Ro hinunter und zog sie hoch. Sie murmelte einige unverständliche Worte, aber später konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, dass er sie zu ihrem Schlafplatz getragen hatte.


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#5

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 30.09.2012 21:20
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Ro teilte vorsichtig die Äste und blickte hinunter auf das Ufer. Am Fuss des Hügels, auf dem sie stand, lag eine kleine Elfenstadt auf einer Landzunge. Links war der See, in dem sich der wolkenverhangene Himmel spiegelte, rechts rankte sich das Band eines Flusses in das Blätterdach des Waldes, breit genug um auch mit grösseren Schiffen darauf zu fahren, aber doch ein Stück schmaler als der Malven bei Derni, an dem sie als Kind gesessen hatte. Sie erinnerte sich an das Schilf, das im Wind geschwankt hatte, und an das ruhige Plätschern des Wassers am Steg und um ihre Füsse. Sie erinnerte sich, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte... Aber das hier war ein anderer Fluss. Nicht der Fluss der Vergangenheit, sondern der Fluss der Zukunft. Es war der Loney.
Die Stadt war ein Handelsumschlagplatz. Die eigentlichen Wohnhäuser waren ein Stück vom Wasser entfernt im Wald, direkt am Seeufer standen nur Lagerschuppen und diese waren auf Stelzen. Vermutlich gab es hier manchmal Überschwemmungen, wenn der See anstieg und das Flussbett das Mehr an Wasser nicht zu fassen vermochte. Auf der Flussseite der Landzunge war das Ufer felsig, auf der Seeseite hingegen eher flach, und die Stege ragten weit hinaus, um Wasser zu erreichen, das tief genug war. An einem Steg lagen ein paar Fischerboote, am zweiten zwei elegante elfische Segelschiffe. Am dritten jedoch ankterten fünf breite, flache Boote mit klappbarem Mast und Rudern, wie sie für die Flussschiffahrt verwendet wurden.
"Wir bräuchten drei davon", sagte Nesh.
"Dann müssen wir die anderen zwei leck schlagen", meinte Arsa. "Damit sie uns nicht folgen."
"Glaubst du, das würden sie sich trauen?", fragte Danva.
"Ja", meinte Ro. "Da sind nicht nur Elfen. Ich wette die Boote gehören Menschen. Es ist die gleiche Bauart wie am Malven."
"Und was ist mit den Segelbooten?", fragte Nesh.
Danva schüttelte den Kopf. "Das sind Seekreuzer. Haben viel Tiefgang. Damit wagen sie sich nicht auf den Fluss. Die können uns nicht folgen."
"Hm", sagte Nesh. "Aber erstmal müssen wir überhaupt an die Boote ran kommen." Er sah Ro an. "Ist dir klar, dass wir mit dem ganzen Gepäck werden kämpfen müssen? Kannst du so überhaupt kämpfen?"
Das war eine berechtigte Frage. Jeder von ihnen trug einen grossen Packen, weit mehr als das, womit sie im Herbst alleine gereist war. Denn jeder trug seine Schlafunterlage und Decken, Rüstung, Waffen, wärmere Kleidung und sonstige Ausrüstung, dazu kamen Kochtöpfe, Vorräte und auf je vier bis sechs Leute ein Zelt. Ro's Zelt trug Nesh, dafür trug sie sein Fell und seine Decken. Sie hatte wohl die leichteste Last von allen, weil bei sie kein Kettenhemd und keinen Helm trug sondern nur eine leichte Lederplattenrüstung, dennoch konnte sie mit dem Rucksack kaum rennen. Sie schüttelte den Kopf. "Das Ziel ist, dass wir überhaupt nicht kämpfen müssen."
"Und wie soll das gehen?", fragte Arsa. "Die hier sind ein paar mehr als in dem kleinen Kaff letztes Mal. Die können wir nicht einfach einschüchtern."
"Wir müssen sie überraschen", sagte Ro. "Wir greifen nachts an, und wir kommen von da." Sie deutete am eine Stelle am Seeufer. "Dann sind wir von dem Punkt an, wo sie uns sehen können, schneller bei den Booten als die von den Häusern."
"Und was machst du mit den Wachen?", fragte Arsa.
Ro sah ihn an. "Was wohl?"
Nesh seufzte. "Also doch kämpfen."
Ro ging nicht darauf ein. "Bleibt nur eine Frage: können wir die Boote schnell genug in den Fluss und weg von der Stadt lenken? Können wir sie überhaupt lenken?" Sie sah Danva an. "Ich weiss, dass du es kannst, aber haben wir genug Männer, die eine Ahnung davon haben?"
Danva musterte das Gelände unter ihnen mit zusammengekniffenen Augen. Er war einige Zeit Flussschiffer gewesen, deshalb würde er, was das Steuern der Boote anging, das Kommando übernehmen. "Es sollte reichen", sagte er. "Wenn wir die, die es können gleichmässig auf die Boote verteilen und wenn die anderen tun was sie sagen."
"Gut", sagte Ro. "Dann ist es beschlossen."


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#6

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 30.09.2012 23:00
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Die Nacht war schwarz, denn noch immer hing eine Wolkendecke über dem Land, und ein leichter Wind wehte von Osten her über den See. Das Plätschern der Wellen, die ans Ufer schwappten, verschluckte das Geräusch ihrer Schritte fast ganz. Ro ging voran. Ihre Stiefel tasteten durch den lehmigen Sand, langsam, um nicht über irgendetwas zu stolpern. In ihrer rechten Hand hielt sie den Dolch. Den Säbel würde sie diesmal nur ziehen, wenn es zu einem offenen Kampf kam, denn sie konnte sich mit dem Gepäck zu wenig bewegen, um ihn wirklich zu gebrauchen.
Geduckt schlichen sie dem Ufer entlang, bis der Wald endete. Nun lag eine freie Fläche vor ihnen, die von den Fackeln am Steg beleuchtet wurde. Drei Wachen waren da, zwei auf dem Steg selber - diese blickten auf den See - einer am Ufer mit Blick auf die Stadt.
Ro wartete, bis er ihnen den Rücken zukehrte, dann rannte sie - sofern man dem Gestolper rennen sagen konnte - auf ihn zu. Er hörte ihre Schritte, fuhr herum und erstarrte einen Moment. Dann begann er zu schreien und zog sein Schwert. Ro blieb stehen und richtete den Dolch auf ihn. Die anderen Wachen kamen über die Stege angerannt. Ro stach auf den Elfen ein, zuckte aber wieder zurück, als er sein Schwert schwang. Arsa holte sie ein, rannte mit den Schild voran in den Elfen, und trieb ihn so über den Rand des Stegs. Der Elf trat ins Leere und fiel rücklings ins knöcheltiefe Wasser. Ro rannte weiter und liess sich dem zweiten Elfen, der über die Bohlen auf sie zustürmte kurzerhand unter seiner Klinge hindurch vor die Füsse fallen. Er flog im hohen Bogen über sie hinweg und knallte auf die Bretter. Sie hörte das Gurgeln, als ihm von einem der Männer die Kehle durchtrennt wurde. Während sie sich ächzend wieder aufrappelte, stürmte der dritte auf sie zu, doch bevor er sie erreichte wurde er von Nesh's Schwert durchbohrt.
Sie lief weiter zum dritten der Boote und warf ihren Rucksack hinein, dann rannte sie den Entgegenkommenden ausweichend zum ersten der Boote zurück, um es unschädlich zu machen. Arsa würde sich um das zweite kümmern. Bei den Häusern flammten nun Lichter auf. Sie sprang in das Boot hinunter. Die Dinger waren zu stabil, um sie wirklich leck zu schlagen, also musste sie das Ruder zerstören. Zerst versuchte sie es von Hand, dann hieb sie mit dem Säbel darauf ein, aber es war Zwecklos. Sie sprang zurück auf den Steg und packte einen der vorbeirennenden. "Gib mir deine Axt!"
Die Streitaxt war fast zu schwer für sie, aber immerhin hatte es dadurch genügend Wucht. Beim dritten Schlag splitterte die Ruderstange, mit dem fünften war sie durchtrennt. Sie kletterte auf den Steg und sah, dass Arsa eine ähnliche Lösung gefunden hatte. Er durchtrennte auch die Seile, mit denen das Boot festgemacht war und stiess es zusammen mit zwei anderen Männern an, sodass es vom Steg wegtrieb. Plötzlich ertönte ein Sirren. Ohne nachzudenken hechtete Ro wieder ins Boot und rollte sich an die Wand. Im nächsten Augenblick ging ein Pfeilhagel nieder. Scheisse, dachte sie. Verdammte Scheisse! Warum hatte sie nicht daran gedacht? Tränen des Zorns stiegen ihr in die Augen. In der kurzen Feuerpause sprang sie auf und hackte wie besessen auf die Seile ein, dann warf sie sich wieder zu Boden, als die nächste Salve kam. Dann steckte sie die Axt in den Gürtel, sprang aus dem Boot und rannte. Wieder hörte sie das Zischen. Nesh brüllte etwas. Sie spürte wie ein Pfeil die Schulterschütze ihrer Rüstung streifte, dann streifte einer ihren Arm und riss ihr dabei Kleidung und Haut auf. Ihr Fuss blieb an etwas schwerem, weichem hängen, was sich verdammt nach einem Gefallenen anfühlte, aber sie hatte keine Gelegenheit nachzusehen, wer es war, denn sie knallte der Länge nach auf die Planken. Jemand packte sie an der Rüstung und zerrte sie über die Bootswand. Dann gab es einen Ruck und die Boote legten ab.
Sie richtete sich auf und duckte sich gleich wieder unter dem nächsten Pfeilhagel. Diejenigen, die einen Schild hatten, hielten ihn über ihre Köpfe, die anderen versuchten sich mit dem Gepäck zu schützen. Sie bemerkte, dass jemand einen Schild über sie hielt, blickte auf und sah Nesh. "Danke", sagte sie leise. Er nickte nur.
Sie hörte Danva brüllen: "Rudert, verdammt nochmal!!" Einige folgten dem Befehl und die Schiffe nahmen Fahrt auf. Danva brüllte Richtungsänderungen. Ro blickte auf und sah, dass sie auf den offenen See hinausfuhren. "Nein!", rief sie und sprang auf. "Wir müssen in den Fluss!"
"Dort werden sie uns abschiessen!", schrie Danva.
"Und hier werden sie uns jagen und dann abschiessen!", schrie Ro zurück. "Wir können auf dem See nicht entkommen."
Für einen Augenblick sahen sie sich nur an, in einem Duell der Blicke, und die Meter zwischen den Schiffen schienen auf einen einzigen Schritt zu schrumpfen. Dann brüllte Danva: "Zum Fluss!"
Während sie um die Spitze der Landzunge fuhren, gelangten sie ausserhalb der Reichweite der Bögen. Die Boote fuhren nun in den Fluss ein, und die Strömung begann an ihnen zu ziehen. Sie wurden schneller. Plötzlich erschienen auf der rechten Flussseite Fackeln und mit ihnen Bogenschützen. "Deckung!", brüllte Nesh. "Schneller Rudern!", brüllte Danva. Schilde dröhnten unter der Wucht der Pfeile, jemand schrie.
Dann wurde es ruhig. Ro hob vorsichtig den Kopf und sah den Grund dafür: der Loney hatte eine Biegung gemacht, die Felsen, wo die Bogenschützen gestanden hatten, waren verschwunden, und die Strömung und die Ruderschläge trugen sie schneller fort, als jemand im Uferdickicht hätte folgen können. Aber die Gefahr war noch nicht vorbei. "Licht!", rief Danva. "Schnell!" Ihr wurde klar, dass sie nur durch Glück um die letzte Biegung gekommen waren, denn sie konnten überhaupt nichts sehen. Es schien ewig zu dauern, bis endlich jemand Fackeln aufgetrieben und angezündet hatte. Im spärlichen Licht sah Ro sich um. Einige der Männer waren verletzt. Viele lagen nur da, keuchend von der Anstrenung mit Gepäck zu rennen und dann vom Rudern. Aber nun war es Ro, die sie weiter antrieb. Sie mussten weiter rudern. Sie konnten es nicht riskieren, verfolgt zu werden. Auch sie selbst setzte sich an ein Ruder und ruderte wie besessen, solange bis Nesh sie wegpflückte und ihren Platz einnahm.


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#7

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 02.10.2012 01:08
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie starrte ins Feuer und liess die Streitaxt mit einem Finger am Griff kreisen, die Spitze in den Boden gerammt. Es war die Axt, mit der sie das Ruder des Bootes zerschlagen hatte. Der Besitzer der Waffe, der sie ihr gereicht hatte, lag schwer verwundet in einem Zelt. Ein Pfeil hatte seinen Gambeson durchschlagen und sich tief in seine Brust gebort. Das war die Bilanz des Pfeilhagels: drei Tote, einer davon zurückgeblieben, und zehn verletzte, vier davon so schwer, dass sie es vermutlich nicht überlebten. Der Mann, dem die Axt gehörte war einer davon.
Sie stützte den Kopf in die Hand und zuckte zusammen, als eine Hand sich auf ihre Schulter legte. Nesh liess sich neben ihr auf einen Stein fallen. "Es ist nicht deine Schuld", sagte er leise.
Sie blickte zwischen den Fingern hindurch zu ihm auf. "Doch", sagte sie. "Ich hätte daran denken müssen, dass sie Bögen haben."
"Du kannst nicht an alles denken", erwiderte er. "Du hast an vieles gedacht. Jeder Mensch macht Fehler." Sie sah ihn an, und er schien ihre Gedanken zu lesen, denn er beugte sich näher und flüsterte so leise, dass nur sie es hörte: "Und auch jeder Dämon."
"Aber ich darf keine Fehler machen", sagte sie erstickt. "Ich bin euer Anführer. Wenn ich einen Fehler machen, dann sterbt ihr."
Nesh sah sie ernst an. "Wir haben dich als unseren Anführer gewählt, weil wir glauben, dass du weniger Fehler machst, als die meisten von uns es tun würden. Aber du bist noch nicht lange Anführer. Keiner erwartet von dir, dass du dieselbe Erfahrung hast, wie dein Vater es hatte. Ich meine, er war..." Er zögerte einen Moment als ihm einfiel, was Ro über die Langlebigkeit der Dämonen gesagt hatte. "...ich habe keine Ahnung wie alt er war, aber er war seit Jahrzehnten Hauptmann. Natürlich wusste er mehr als du jetzt, aber..."
Er hielt inne, als er sah, dass ihr eine Träne über die Wange lief. "Es ist nicht deine Schuld", sagte er noch einmal. "Jeder von uns hätte daran denken müssen."
Sie versenkte das Gesicht in ihren Händen, die Axt fiel zu Boden. Ein sanfter Schlag traf sie am Schulterschutz. "Hey", sagte Nesh. "Wir sind Söldner. Jeder von uns weiss, dass er sterben kann. Wir haben das so gewählt. Und mit dir sind wir besser dran, als wenn wir einfach alle kopflos drauflos rennen würden."
Einige Männer schlenderten herbei, liessen sich auf der anderen Seite des Feuers auf den Boden fallen und grüssten sie beide. Ro wischte sich die Tränen weg, lächelte Nesh an und flüsterte so dass nur er es hörte: "Danke."
Er grinste, stand auf und zog sie auf die Füsse. Dann packte er sie plötzlich und hob sie hoch. "Hey! Was soll das", rief sie und zappelte, doch er hielt sie fest. Die Söldner am Feuer lachten. Sie schlug auf seine Schulter und rief halb wütend, halb ebenfalls lachend: "Hey, lass mich runter!" Wieder zappelte sie. Hätte sie sich ernsthaft gewehrt, wäre Nesh vermutlich längst mit einer blutigen Nase am Boden gelegen. Er wusste dass, und so ging er nicht auf ihre Aufforderung ein, sondern warf sie sich kurzerhand über die Schultern wie einen Sack Mehl.
Zuerst fand sie das ziemlich lustig. Solange bis sie merkte, wohin er ging: zum Fluss hinunter. Wollte er etwa...? "Hey, nein!", rief sie und trommelte mit den Fäusten auf seinen Rücken ein, was bei seinem dicken Gambeson natürlich überhaupt keinen Effekt hatte. Er lachte nur, und trug sie weiter zum Ufer, als wollte er sie ins Wasser schmeissen. Wobei sie sich gar nicht so sicher war, ob er es nicht tatsächlich tun würde. Die Männer grölten.
Sie wand sich, bekam ein Bein aus seinem Griff und schlug ihm das Knie gegen das Kinn, worauf er auch das andere Bein locker liess und sie kopfüber über seinen Rücken zu Boden fiel. Lachend blieb sie liegen, doch er riss sie hoch, packte sie um die Hüften und wieder verlor sie den Boden unter den Füssen. "Lass das!", rief sie zappelnd und trat mit der Ferse ihres Stiefels in sein Schienbein. Er fluchte und drückte seine Arme so stark zusammen, dass sie die Luft anhalten musste, um nicht zerquetscht zu werden. Einen Moment lang hielt er sie fest, dann flüsterte er leise: "Ich bin froh, dass die Pfeile dich nicht getroffen haben."
"Ich auch", flüsterte sie verwirrt zurück.
Er lachte schallend und liess sie los.


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#8

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 02.10.2012 02:09
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Ende Mai des Jahres 307

Sie duckte sich hinter die hohe Bordwand, den Säbel an der Hand. Die Axt hing an ihrem Gürtel. Der Mann, dem sie gehört hatte, war zwei Tage nach dem Kampf gestorben, zusammen mit zwei weiteren der Verwundeten. Drei weitere hatte eine Woche später das Wundfieber geholt. Seither trug sie die Axt, im Gedenken an die Gefallenen, auch wenn sie nicht wirklich damit umgehen konnte.
Die drei Boote trieben sanft den Loney hinunter. Sie hörte das Zwitschern der Vögel in den Bäumen am Ufer, den leisen Atem der neben ihr an die Bordwand gedrängten Männer und dann das Plätschern der Ruder der entgegenkommenden Boote. Sie reisten nun seit vier Wochen auf dem Loney und was sie an Vorräten aus dem Dorf geraubt hatten, und was von den Händlern noch auf den Booten gewesen war, war aufgebraucht. Sie brauchten Nachschub. Und wem nicht gegeben wurde, der musste eben nehmen.
Sie blickte auf und sah Nesh neben sich an der Bordwand kauern, Schwert und Schild in der Hand. Seine schmutzigen blonden Locken ragten unter dem Rand seines Helmes hervor, ebenso wie der struppige Bart, der ihm in den letzten Wochen gewachsen war. Er grinste, dann wurde er ernst. "Fall nicht ins Wasser."
"Du auch nicht", flüsterte sie zurück.
Er nickte nur. "Schau, dass du überlebst."
Plötzlich lief es ihr kalt über den Rücken. Sie erinnerte sich an das letzte Mal, als das jemand zu ihr gesagt hatte, und wie es geendet hatte.
Sie spürte wie Danva das Boot sanft nach links lenkte, auf die entegenkommenden Boote zu. Er sollte dabei wirken, als wollte er etwas fragen. Nur wenige der Männer standen sichtbar an Deck, einige davon ohne ihre Rüstung, damit sie wirkten wie gewöhnliche Flussschiffer. Ein Irrtum, der sich für die anderen als tödlich erweisen würden. Sie hörte Danva einige Worte rufen und hörte das Plätschern des Wassers an den Seiten der anderen Booten nun ganz nah. Sie blickte auf zu einem der Männer an Deck. Der nickte. Sie sah Nesh an, nickte ihm zu, dann sprang sie mit einem lauten Schrei auf.
In allen drei Booten taten es ihr ihre Männer gleich, warfen Seile mit Haken, die die Flussschiffer gewöhnlich zum ankern benutzten, in die anderen Boote und zogen sie zusammen. Ro sprang über die Bordwände hinweg auf das Deck des anderen Bootes und stürzte sich auf einen der Wachleute, der hastig sein Schwert aus der Scheide riss. Mit zwei Schlägen beförderte sie seine Klinge zur Seite, mit dem dritten machte sie ihn einen Kopf kürzer.
Schnell sah sie sich um. Pave's Trupp auf dem zweiten Boot stürmte ebenfalls das gegnerische Deck, während Arsa auf dem dritten Mühe zu haben schien, die Kähne nahe genug zusammen zu bringen. Sie duckte sich unter einem Dolchstich durch und trennte mit einem Schlag den Arm von der Schulter des Schiffers, der sie angegriffen hatte. Blut spritzte aus dem Stumpf, als der Mann zusammenklappte. Sie trieb die Spitze ihres Säbels durch seinen Hals, drehte sich um - und erstarrte.
Die Zeit schien still zu stehen. Alle Geräusche fielen in sich zusammen. Sie sah Nesh. Sie sah die Klinge. Sein Schild senkte sich, um sie abzulenken. Aber die Klinge war schneller. Sämtliche Muskeln in ihrem Körper spannten sich zum Sprung. Sie wusste, sie würde zu langsam sein. Zu langsam, hallte es in ihrem Kopf wieder. So viel zu langsam.
Die Klinge traf, bohrte sich in das weiche Fleisch des Bauches. Nesh zuckte vor Schmerz. Seine Knie knickten ein. Vor Ro's Augen veränderte sich das Bild. Ein bleiches Gesicht im Kerzenlicht. Ein Strick, der sich zuzog, zwei Füsse, die zappelten. Eine Schwert, das die Brust eines Dämons durchdrang und auf der Rückseite weider austrat. Ein Herzschlag, der verklang.
Sie hörte sich selbst schreien. Dann drehte sie durch.


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#9

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 03.10.2012 00:12
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie kniete auf dem Boden. Jede Faser ihres Körpers schmerzte seit sie aufgewacht war. Irgendjemand hatte sie bewusstlos geschlagen, vermutlich Arsa. Es war ihr egal. Der Schmerz war ihr auch egal. Sie kniete nur da und starrte auf Nesh.
Im Halbdunkel des Zeltes war er so bleich, als wäre er bereits tot, doch sie wusste, dass er noch lebte, denn immer wieder zuckte er vor Schmerz. Vorsichtig griff sie nach der Wolldecke, mit der sie ihn zugedeckt hatten, und zog sie zurück. Die Verbände um seinen Bauch waren blutgetränkt. Sie wusste was darunter lag, sie hatte die Wunde gesehen, bevor Devro ihn verbunden hatte. Sie wusste, dass er es nicht überleben würde. Eine Träne rann über ihre Wange. Kein Mensch konnte das überleben. Er würde verbluten, noch bevor der Morgen anbrach.
Sanft legte sie die Decke zurück und zuckte zusammen als er sich bewegte. Er riss die Augen auf und starrte sie an, doch er schien sie nicht zu erkennen. Dann stöhnte er und wand sich vor Schmerz. Die Träne rann ihr zum Kinn und tropfte hinunter. Er konnte es nicht überleben. Er litt nur noch. Sie zog den Dolch und hob ihn an. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie sich beinahe selbst an der Klinge schnitt. Sie konnte es nicht. Sie konnte es einfach nicht. Mit einem leisen Schluchzen steckte sie die Klinge wieder zurück in die Scheide.
Sie hörte, wie jemand die Zeltwände teilte und neben sie trat. Arsa liess sich neben ihr auf die Knie sinken. Eine Weile lang schwieg er. Dann sagte er: "Ruf die Hexe."
Sie blickte auf und hoffte dass man nicht sah, dass sie geweint hatte. "Wen?"
"Die Hexe", sagte Arsa. "Die von den Assassinen. Mit dem Stein."
Sie biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab. "Nein."
"Er wird sterben, wenn du es nicht tust. Aber sie kann ihn retten."
Sie schluckte und sagte: "Die anderen sind auch gestorben, als wir die Boote genommen haben. Warum sollte er leben und sie nicht?"
Sie spürte, wie Arsa sie musterte. Dann sagte er: "Weil du ihn liebst."
Sie fuhr herum. "Was?!"
"Du liebst ihn", sagte Arsa und in seinem Blick sah sie, dass er es ernst meinte. "Und wenn du ihn nicht liebst, wie eine Frau einen Mann liebt, dann so, wie du deinen Vater geliebt hast." Er sah sie ernst an. "Ich habe dich nie so kämpfen gesehen wie heute. Du hast mir Angst gemacht. Und glaub mir, dazu braucht es einiges. Aber einige Männer, die im Krieg gegen die Klippenstädte dabei waren, haben dich schon einmal so gesehen. Als dein Vater gestorben ist."
Sie schluckte wieder. Eine zweite Träne rann ihr übers Gesicht. "Deswegen wird er sterben", sagte sie leise. "Sie sind alle gestorben. Meine Mutter. Darez. Der Dieb. Alle tot. Alle werden sterben. Nesh ist nur der nächste. Sie sterben alle. Keiner bleibt am Leben um mich."
Arsa verpasste ihr eine schallende Ohrfeige. Sie taumelte und er packte sie bei den Schultern. "Hör auf damit!", fuhr er sie an. "Du kannst nicht einfach aufgeben! Er ist noch nicht tot, und du kannst ihn retten, also TU ES!!"
Sie Blickte in Nesh's bleiches Gesicht. "Nein."
"Dann tu ich es", sagte Arsa drohend.
"Kannst du nicht", entgegnete sie ruhig. "Ich habe den Stein."
Sie hatte das letzte Wort noch nicht fertig gesprochen, als Arsa sich auf sie warf und sie umriss. Sie rollten über den Boden, während er versuchte, an den Stein in ihrer Gürteltasche zu kommen. Sie schlug ihm den Ellbogen ins Gesicht und rammte ihm das Knie in die Magengrube, dann wand sie sich aus seinem Griff und sprang auf. Keuchend blickte sie auf ihn hinunter. Er wischte sich das Blut von der Nase und wollte wieder angreifen, doch sie hob abwehrend die Hände. "Ich tue es."
Mit zitternden Fingern holte sie den Stein hervor, umschloss ihn fest mit der Faust und hob ihn über den Kopf. Dann schloss sie die Augen. Ran! Sie spürte wie der Gedanke sich ausbreitete wie eine Kreiswelle in einem Teich. Er brandete über die Zelte hinweg, über die Bäume, den Fluss. Blieb nur zu hoffen, dass Ran ihn hörte. Eine dritte Träne rann zwischen ihren zusammengekniffenen Augenliedern hindurch. Ran!, schrie sie in Gedanken, und diesmal lag in dem Ruf all ihre Verzweiflung.


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#10

RE: Nordufer des Spiegelsees und Oberlauf des Loney

in Dreitan - das Spiel 03.10.2012 00:31
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Es dauerte eine Weile bis sie begriff, dass das, was sie gehört zu haben glaubte, tatsächlich Ran war. Am Loney, rief sie zurück. Ihr wurde bewusst, dass der Loney verdammt lang war. Sie dachte an eine Reihe von Flussschleifen und anderen markanten Punkten, die sie in den letzten Tagen passiert hatten und hoffte, dass Ran etwas damit anfangen konnte. Dann dachte sie an das Lager, dass sie auf einer Lichtung am Flussufer aufgebaut hatten.
Die andere Frage war schwieriger zu beantworten. Sie brachte keinen halben Gedanken zusammen, um die Situation zu beschreiben. Was sie schliesslich Ran sandte war ein einziges Durcheinander. Arsa sagt, ich soll... Kampf auf den Schiffen... er stirbt... Arsa zwingt mich, dich zu rufen... ich habe ihm nur gesagt, er soll nicht ins Wasser fallen, nicht dass er überleben soll... es ist wie damals... ich konnte nichts tun... Dazwischen überlagerten sich die Bilder von Nesh, wie er vom Schwert durchbohrt wurde und von Darez, wie er auf dem Schlachtfeld starb.
Sie brach in Tränen aus.


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