Einen Augenblick fragte sich Ro, wo Ran so schnell hergekommen war. War sie in der Nähe gewesen? Vielleicht hatte sie sich auch hergezaubert. Alles war möglich.
Als Ran sie losliess, knickten ihre Knie einfach ein. Einfach so, ohne Vorwarnung. Einige Augenblicke später wurde ihr bewusst, dass sie mit dem Gesicht auf dem Boden lag. Sie rappelte sich auf, aber die Welt schien irgendwie zu wanken, so als hätte sie getrunken. Hatte sie getrunken? Nein. Sie hätte es getan, hätte sie klar genug denken können, um überhaupt auf die Idee zu kommen - welche ihr normalerweise nicht sehr fern lag - aber sie hatte es nicht getan. Sie war nur zu sich gekommen, hatte Nesh verbinden lassen und dann hatte sie nichts mehr getan.
Sie richtete sich auf die Knie auf und sah Ran bei Nesh knien. Dann sah sie Arsa, der neben ihr stand und dessen Mund und Kinn noch immer blutverklebt waren, auch wenn es mittlerweile aufgehört hatte zu tropfen. Er zog sie auf die Füsse, sie taumelte zu Ran hinüber und kniete sich neben sie, um zu sehen, was sie tat.

Ro war verwirrt. Einerseits sah das, was Ran da tat so merkwürdig und unnatürlich aus, dass es ihr beinahe den Magen umdrehte. Andererseits verstand sie nicht wirklich, was Ran wissen wollte. Gedanken und Erinnerungssplitter? Meinte sie das, was sie ihr in Gedanken geschickt hatte.
Ihr war bewusst, dass das ganze verdammt wirr gewesen war. Nicht zuletzt weil sie immer wieder geschwankt war zwischen Nesh und Darez. Sie fuhr sich über die Stirn. "Ich... ich glaub ich hab da ein bisschen was durcheinander gebracht."

"Mein Vater... ist auf dem Schlachtfeld gestorben", sagte sie leise. "Aber das ist lange her. Ich hab mich nur dran erinnert."
Kurz schwieg sie, dann fuhr sie fort: "Wir haben einige entgegenkommende Boote angegriffen, um... naja, um sie auszurauben. Nesh wurde im Kampf verwundet. Ich mein, es war ja nicht sehr unwahrscheinlich. Er hat selbst immer gesagt er ist Söldner und er hat sich damit abgefunden, dass es ihn irgendwann umbringen wird. Ich wollte dich auch nicht rufen, aber Arsa..."
"...hat sie dazu gezwungen wenigstens einmal nicht masochistisch zu sein", beendete Arsa den Satz und funkelte sie an.
Sie wusste nichts darauf zu sagen, denn irgendwie hatte er da nicht ganz unrecht. Stattdessen betrachtete sie die Stelle an Nesh's Bauch wo zuvor die Wunde gewesen war, und wo nun saubere Haut war, umgeben von verkrustetem Blut. Es sah merkwürdig aus.
"Das mit dem ertrinken", meinte sie schliesslich und spürte, wie sie leicht rot wurde, wobei leicht bei ihrer hellen Haut vermutlich schon verdammt gut sichtbar war. "Er sagte vor dem Angriff zu mir ich soll nicht ins Wasser fallen und ich sagte 'du auch'. Dann meinte er, ich soll schauen, dass ich überlebe. Und ich hab nichts mehr darauf gesagt. Und dann wurde er getroffen."
Verdammt, wieso heulte sie jetzt schon wieder fast?

Ro warf noch einen Blick auf Nesh und deckte ihn sorgfältig zu, dann stand sie auf und folgte Ran. "Ja, wir sind hier wegen dem Krieg. Ich kann dir nicht sagen, wem wir uns anschliessen werden, weil ich keine Ahnung habe, wer überhaupt gegen wen kämpft. Weisst du es?"
Sie runzelte die Stirn. "Moment mal. Ich hab dir noch gar nie ein Messer nachgeworfen."

Ro kniff die Augen zusammen. Ran hustete Blut. Das war nicht gut. Noch alle, die sie Blut husten gesehen hatten, waren nicht viel später gestorben. Sie kannte den Namen dieser Krankheit nicht, oder besser gesagt sie kannte viele Namen dafür, denn unter den Söldnern war sie gefürchtet, und was sie fürchteten, trauten sie sich nicht beim Namen zu nennen, sondern gaben ihm Übernamen.
Sie wusste nicht, ob sie Ran darauf ansprechen sollte. Wahrscheinlich wusste sie selbst besser, was für eine Krankheit es war, und vielleicht konnte sie sie ja auch heilen. Also liess sie es bleiben.
Stattdessen versuchte sie sich daran zu erinnern, wann sie Ran ein Messer hatte nachwerfen wollen, oder besser gesagt, welche Gelegentheit Ran wohl meinte, denn eigentlich gab es eine ganze Reihe davon. Schliesslich fiel es ihr ein. Dort, nachdem der Arzt ihr Bein geheilt hatte. Als sie sich daran erinnerte, warum sie Ran beinahe das Messer in den Rücken geworfen hätte, wurde sie augenblicklich wieder wütend. Sie versuchte den Zorn hinunter zu schlucken. Das war jetzt definitiv kein geeigneter Moment, um wütend zu sein. "Du hast mich da behandelt wie ein Kleinkind", sagte sie schliesslich. "Und mich vor den ganzen Leuten blossgestellt. Ausserdem ging die Leute das mit meinem Vater nichts an. Überhaupt nichts."