"Nichts", antwortete Ro wortkarg.
Sie hörte, dass Ran irgendetwas herumwar und drehte sich um - und war mit einem Satz auf den Füssen, denn die Frau ide dort kniete war eine Fremde. Sie hatte schon die Hand an ihrem Säbel und war kurz davor, ihn zu ziehen, während sie in Gedanken das Nachthemd verfluchte, bis sie begriff, dass die andere nicht wirklich so fremd sein konnte. Schliesslich hatte sie mit Rans Stimme gesprochen. Und sie sah eigentlich auch irgendwie aus wie Ran. Nur dass sie blond war. Und plötzlich viel mehr wie eine Elfe wirkte als wie ein Dämon, nur ihre Ohren waren weniger spitzig.
Sie liess den Säbel wieder los und versuchte sich zu beruhigen. Ran hatte diese Verbanddinger, also konnte sie sich verwandeln, wie sie wollte. Aber musste sie das unbedingt so ohne Vorwarnung tun?
"Machst du das oft?", fragte sie leicht verärgert, während sie wieder zum Feuer trat.

"Nein", meinte Ro und hob eine Augenbraue. "Deine Haarfarbe wechseln."
Wonach suchte Ran da eigentlich so halb hysterisch?

"Nicht freiwillig?", hakte Ro nach. Bedeutete das, Ran veränderte sich manchmal unabsichtlich einfach irgendwie?
So ging zu einem der Betten und überprüfte wie immer, bevor sie sich schlafen legte, ihre Waffen. Ihr Säbel war da und sass fest. Ihr Dolch... einen Moment lang bekam sie Panik, weil sie ihn nicht ertastete und die letzte Erinnerung von ihm war, wie sie ihn dem Vieh in der Höhle in die Schulter gestossen hatte, doch dann spürte sie den lederumwickelten Griff unter ihren Fingern und erinnerte sich daran, wie sie ihn aus dem Geröllhaufen gefischt hatte. Nur das Stilett hatte sie nicht mehr gefunden, aber sie mochte es ohnehin nicht sonderlich.
Allerdings hatte sie die Messer so beiläufig eingesammelt, dass sie sich kaum daran erinnern konnte. Als hätte sie es irgendwie unterbewusst getan. So wie man sich automatisch abfängt, wenn man stolpert. So als wären die Messer ein Teil von ihr, über den sie gar nicht nachzudenken brauchte. Sie hatte immer geglaubt, diese Vertrautheit mit ihren Waffen sei einfach, weil sie ein Dämon war. Aber Ran und Urakantor schienen nicht halb so viel Wert auf ihre Säbel zu legen, wie sie es tat. Seltsam.

Ro setzte sich auf die Bettkante. Ich will wissen, warum ich hier bin, dachte sie, aber das war vermutlich die Frage, die Ran ihr nicht beantworten konnte. Und eine andere Frage fiel ihr nicht ein. Also schüttelte sie den Kopf. "Ist schon gut. Gute Nacht."
Sie legte sich hin und zog die Decke über sich. Der Druck, wo sie auf ihrem Dolch lag und das Gewicht des Säbels auf der anderen Seite gaben ihr das Gefühl, dass nicht alles falsch war, auch wenn das Nachhemd nicht ihrer üblichen Kleidung entsprach und der grosse, steinerne und fast leere Raum anders war als alles, was sie bisher gesehen hatte.
Sie starrte in die Flammen hinüber. Sie hatte noch eine Frage, aber es war eine, die sie nicht stellen wollte. Die Frage, was Ran von Darez wusste. Wie die Dämonen ihn sahen, ihn der nichts mehr mit Dämonen hatte zu tun haben wollen und lieber unter Menschen lebte. Verachteten sie ihn alle so dafür wie Vakra es tat? Aber sie wollte nicht über Darez sprechen, schon gar nicht mit Ran.
Sie drehte sich auf den Bauch und legte den Kopf auf die Arme. Das merkwürdige Gespräch in den Tunnels fiel ihr ein. Das Gespräch mit diesem Wesen, das sich das Nichts nannte. Sie fragte sich, was es wohl war. Es schien keinen Körper zu haben und hatte nur im Traum mit ihr sprechen können. Aber es hatte sie auch irgendwie in diesen Traum gebracht, denn sie konnte sich nicht mehr erinnern, wie sie eingeschlafen war. Da war nur ein verschwommenes Bild vom Ring aus flüssigem Feuer, und dann plötzlich dieser Garten.
Was das Wesen gesagt hatte, liess in ihr plötzlich eine Frage auftauchen, die sie sich niemals gestellt hatte. Ob das alles einen Zweck hatte. Ob sie nicht zufällig oder durch Pech da gelandet war, wo sie war. Wie das Wesen gesprochen hatte, schien es, als hätte sie eine bestimmte Aufgabe. Den Raben der Schlachtfelder, hatte er sie genannt, die Stimme des Todes. Nun, das beschrieb tatsächlich was sie war, oder zumindest was ihr Vater gewesen war, und was sie sein wollte, auch wenn sie nicht so ganz verstand, warum Stimme.
Sie schloss die Augen. Warum konnte nie etwas klarer werden? Warum erschienen nur immer mehr warums?
Langsam schlief sie ein.

Sie riss die Augen auf und blinzelte. Wo zum Teufel war sie hier? Langsam fiel es ihr wieder ein. Ach du Scheisse, war doch nicht alles nur ein Albtraum gewesen.
Sie rieb sich die Augen und setzte sich auf. Ihr Körper fühlte sich an, als hätte sie lange geschlafen, aber immer noch nicht genug. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal geschlafen hatte. Das musste am Tag gewesen sein, bevor sie bei Vakra einbrach. Ok, so lange war das auch wieder nicht her. Aber es war ziemlich viel passiert. Sie überlegte sich, ob sie sich einfach wieder hinlegen und weiterschlafen sollte, als sie Ran's Notiz entdeckte.
Hm, das PS bedeutete vermutlich, dass sie nicht herumrennen oder klettern sollte. Nicht dass sie das normalerweise in Städten tat. Ausser sie wollte irgendwo einbrechen. Sie kniff die Augen zusammen, aber nein. Ran konnte nichts wissen von ihrer Vergangenheit als Dieb. Wobei, der Magier hatte es auch gewusst.
Sie entfaltete die Kleider. Eine Hose, ein Hemd und eine Tunika. Sie waren schwarz und recht ähnlich geschnitten wie ihre eigenen, nur dass sie neuer und noch ohne risse waren. Einen Moment lang biss sie sich auf die Lippen und überlegte, was sie tun sollte. Vielleicht wurde in einer Tempelstadt von einem erwartet, dass man gepflegt herumlief. Was eigentlich schon ein Grund war, es nicht zu tun.
Sie ging hinüber zum Kamin, in dem das Feuer vollständig heruntergebrannt war und tastete nach ihren eigenen. Sie waren trocken. Sie hob sie hoch und entdeckte einige neue Risse und Löcher, die von dem Kampf mit dem Troll oder ihren Stürzen kommen mussten. Suefzend beschloss sie, das später zu flicken und zog die neuen Kleider an. Die alten legte sie zusammen und verstaute sie in ihrem Seesack. Jetzt hatte sie Ersatzkleidung, auch nicht schlecht.
Sie trat ans Fenster. Es ging nach Südosten. Ein Wolkenmeer breitete sich unter der Stadt aus, aus dem einzelne Berggipfel stiessen. Dem Stand der Sonne nach musste es fast Mittag sein.
Sie zwängte sich in ihre Rüstung, die wie erwartet wieder einmal stärrig war, hängte sich den Schultergurt um und den Seesack daran, zog den Umhang an und verliess das Zimmer.