Lor bastelte seit einige Tagen an etwas herum, und er hatte zwar allmählich das Gefühl, dem Ziel näher zu kommen, scheiterte aber noch an einigen Kleinigkeiten. Als Idril zu ihm heranritt, war er eben damit beschäfftigt, ein Blechplättchen, das er bei der letzten Rast dünngeklopft hatte, zu einem möglichst stromlinienförmigen Körper, der gleichzeitig ein möglichst grosses Volumen beinhalten sollte, zu formen. Wenn es fertig war und funktionierte, sollte es eine Pfeilspitze abgeben.
Die Idee dahinter war ihm gekommen, als er einmal genauer über die Brandbomben nachgedacht hatte, die sie in der Nachtzinne verwendet hatten. Das Problem dabei war, dass man damit nur eine sehr geringe Reichweite hatte, wenn einem nicht gerade ein Katapult zur Verfügung stand, weil man sie nur von Hand werfen konnte. Mit einem Pfeil oder einer Armbrust käme man viel weiter. Allerdings kam dafür dann natürlich kein Steinöl in Frage, denn davon liess sich in einer Pfeilspitze viel zu wenig verbergen, da waren herkömmliche Brandpfeile mit getränkter Wappe effektiver. Mit Zwergenpulver sah die Sache allerdings anders aus.
Ein normaler Pfeilhagel mochte gegen eine Armee mit guten Schilden und brauchbarer Ausbildung zwar Lücken in die Reihen reissen, aber niemals den Ansturm komplett aufhalten. Ein Hagel von Pfeilen mit Köpfen, gefüllt mit Zwergenpulver oder etwas anderem, hochexplosivem, hingegen, würde die gegnereischen Reihen förmlich zerfetzen, denn die Pfeile, die nicht ohnehin trafen, würden explodieren und die umstehenden Töten oder Verstümmeln.
Die Hauptprobleme bei der Herstellung eines solchen Pfeils, vor denen er im Moment stand, war erstens eine Pfeilspitze zu konstruieren, die einerseits innen hohl war, aber andererseits auch stabil genug, um beim Aufprall auf einen Schild nicht zu zerreissen und das Pulver zu zerstäuben, und zweitens, eine Anzündvorrichtung zu finden, die das Pulver erst dann explodieren liess, wenn es in den gegnerischen Reihen war, dann aber möglichst bald, egal wie weit der Pfeil fliegen musste.
Als er Idrils Blick bemerkte, hob er den Kopf, grinste und meinte: "Ein bisschen Knallzeug. Lass die Finger davon, wenn sie dir lieb sind." Er hob seine eigene Linke und wackelte mit den Fingern. "Ich hab zum Glück noch alle, aber mehr als Glück war das wirklich nicht, auf jeden Fall ganz sicher nicht mein Verdienst."
Er lachte, klemmte sich die Pfeilspitze zwischen die Lippen und holte ein Döschen mit feinem Sand hervor, den er vor einigen Tagen zusammengekratzt hatte, um auszuprobieren, weil das Zwergenpulver dazu viel zu wertvoll war.

"Das ist nur Wüstenstaub", lachte Lor ziemlich undeutlich, weil er das Metallstück zwischen den Zähnen hielt. Dann nahm er die Pfeilspitze wieder in die Hand, und füllte mit einem kleinen, ebenfalls aus Blech gedrehten Trichterchen, den Staub hinein, um die Öffnung dann mit den Zähnen zusammendrücken. Mit Zwergenpulver hätte er natürlich eine Zange genommen, um es nicht zu befeuchten, aber im Moment hatte er keine zur Hand und so ging es auch.
Seufzend drehte er das fertige Ding in der Hand. Es verfügte über einen Dorn, mit dem man es an einem Pfeilschaft befestigen konnte und die Form war so konzipiert, dass sie vermutlich tatsächlich ein bisschen etwas aushielt, und eher zusammengedrückt wurde, als zerplatzte, aber das Problem mit dem Zünder hatte er damit noch nicht gelöst. Er steckte das Ding in seine Gürteltasche und holte stattdessen aus einer Satteltasche das Glas mit Zwergenpulver hervor.
"Das", sagte er an Idril gewandt. "Ist das wirklich gefährliche Zeug. Es heisst Zwergenpulver, weil es von den Zwergen gemacht wird. Wie weiss niemand so genau. Die Assassinen können etwas ähnliches machen, das auch recht wirkunsvoll explodiert, aber so gut wie Zwergenpulver ist es nicht."
Er hielt das Glas Idril hin und das Pulver glitzerte schwarz-silbern im hellen Sonnenlicht. "Ich mache es nicht auf", sagte er. "Sonst weht es noch der Wind fort. Aber sieh, wie es glitzert."
Er hob die Hand etwas gegen das Licht der Sonne und was sie sahen, war nicht einfach ein Glitzern, wie es auch von Glimmer hätte stammen können, es schien viel mehr, als würde das Pulver, obwohl dunkel und undurchsichtig, durch sich hindurch leiten, wodurch es auf der Schattenseite merkwürdig schimmerte.
Nach einigen Augenblicken nahm Lor das Glas wieder hinunter und verstaute es in der Satteltasche. "Man sollte es nicht zu lange in die Sonne halten", erklärte er lachend. "Sonst wird es zu heiss und dann fliegt uns hier alles um die Ohren."

Meyra nahm die Dattel dankend an. "Ich komme aus Loney", antwortete sie in dem leisen und ruhigen Tonfall, der ihr meistens zu eigen war. Einen Augenblick lang schien es, als wollte sie es dabei belassen, aber schliesslich sprach sie weiter. "Mein Vater war ein wohlhabender Händler. Wir hatten ein Haus mit einem kleinen Garten und einer hübschen Laube."
Sie verstummte einen Augenblick, dann sprach sie fast verträumt weiter. "Dreimal nahm mich mein Vater mit hinunter zu den Wiesen vor der Stadt, unten am Fluss. Es war sehr schön. Das Wasser glitzerte in der Sonne, da waren Frauen, die Wäsche wuschen und sangen, und Leute, die Fischten. Das werde ich immer gut in Erinnerung behalten, denn es waren die einzigen drei mal, die ich das Haus überhaupt verliess."
Sie zog einige Stück gedörrten Pfirsich hervor und reichte einen Teil davon Idril. "Ich kannte die Welt nur aus Geschichten, solchen Geschichten, wie du und der Geschichtenerzähler sie erzählen, in denen alle Männer entweder Bösewichte oder Helden sind und die Helden immer gewinnen. Und die Mädchen sind Prinzessinnen, die gerettet werden von den Helden und dann für immer glücklich mit ihnen zusammenleben.
Ich glaubte, die Welt sei so. Ich glaubte, mein Vater sei wie diese Könige in den Märchen, die die Prinzessinnen in hohe Türme sperren, weil sie keinen Mann für gut genug für sie halten. Und ich glaubte, irgendwann würde ein Prinz kommen, alle Gefahren bestehen, und mich mitnehmen auf sein Schloss. Ich wartete viele Nächte lang, in meinem Zimmer, oder manchmal im Garten, wenn ich mich hinausstehlen konnte. Und tatsächlich, eines Nachts kam ein Prinz.
Ist es eine schöne Geschichte bis hierher?", fragte Meyra Idril.

Meyra lächelte, aber es war auch ein wenig ein trauriges Lächeln. "Die Geschichte danach ist nicht mehr so schön. Der Prinz war zwar nett, und er küsste mich, aber mitnehmen wollte er mich nicht. Er verschwand wieder über die Gartenmauer und kehrte nicht zurück. Dafür kam in der selben Nacht noch jemand anderes. Ich dachte zuerst, es sei der Prinz, der zurückkam, weil er es sich anders überlegt hatte, doch es war eine Frau. Sie sagte mir, kein Prinz würde kommen und mich retten, solange ich schwach in meinem Garten hocke und warte. Ich müsste selber einen Weg hinausfinden. Die Frau war sehr unfreundlich, aber ich glaubte auch ihr."
Meyra nahm den Tee entgegen, den ihr die Marketenderin reichte und blies darauf, um ihn etwas abzukühlen. Die Nacht brach über der Wüste herein und es wurde schnell kälter. "Also versuchte ich selbst über die Gartenmauer zu kommen", fuhr Meyra fort. "Es war nicht schwer, trotz des langen Kleides, das ich trug. Ich war niemals draussen in der Stadt gewesen, also ging ich einfach auf die Lichter zu, wo viele Leute waren. Dort waren auch Männer, und ich glaubte, unter ihnen müssten die Helden sein, die ich suchte. Aber es waren keine Helden." Ihre Stimme wurde tonlos. "Es waren Arschlöcher."
Sie trank einen Schluck Tee. "Mein Vater wollte mich nicht mehr, danach. Als ich Hunger hatte und zu seinem Haus ging, warf er mich hinaus und verfluchte mich. Also kehrte ich zu den Männern zurück, auch wenn sie böse waren.
Schwester rettete mich schliesslich", schloss sie und sah Idril an. "Ich möchte dir gerne einen Rat geben. Glaube nicht alles, was die Leute dir erzählen. Und glaube vor allem keinem Mann, wenn er dir sagt, er will dir Geld geben. Sie verlangen zu viel als Gegenleistung, und zu viele gehen nachher, ohne dass du das Geld jemals siehst."
Ihre Stimme wurde milder. "Aber Biredh passt ja auf dich auf. Und du kannst Flöte spielen."