Ro dachte nach. "Ich weiss es nicht genau." Sie strich mit den Fingern ueber den schwarzen Stein und versuchte sich zu erinnern, an die Bilder, die sie gesehen hatte, die Gedanken, die nicht ihre waren. "Lange. Sehr lange", murmelte sie. "Wir waren hier, bevor Geschichte geschrieben wurde. Als Blut die einzige Tinte war, die die Welt kannte..." Mein Blut, fuer deine Kraft, Windtaenzer... "Meine Vorfahren haben diese Festung erbaut. Nicht als Herrschaftssitz, sondern fuer einen Krieg. Aber ich weiss nicht mehr welchen." Die Erinnerungen liefen durch ihre Adern. Aber es war wie Fische zu fangen mit blossen Haenden. Manche erwischte sie. Die meisten glitschten davon, sobald sie nach ihnen griff.

Ro grinste und streckte sich, um ihn zu küssen. Dann trat sie zurück, lachte und sprang auf die Brüstung. Sie breitete die Arme aus und schloss die Augen. Ein Gedanke schoss ihr durch den Kopf und sie gluckste. "Als ich das letzte mal auf dem Dach stand, wurde ich von einem Blitz getroffen. Hat glatt die Schuhsohlen durchgebrannt."
Sie öffnete die Augen und eine Bewegung auf der Wiese unmittelbar vor der Festung lenkte ihren Blick auf sich. Eine Gruppe von Leuten mit zwei Pferden machte sich auf den Weg von der Festung hinunter in Richtung Drez. Ro erkannte Lesir in einem der Sättel, die übrigen schienen Wachmänner zu sein. Sie nickte mit dem Kinn auf die Leute. "Lust, in die Stadt runter zu gehen? Wenn wir laufen, holen wir sie noch ein."

Sie erreichten die Gruppe vor dem Stadtrand und verlangsamten auf das gemächliche Marschtempo der anderen. Lesir bemerkte sie und wünschte einen guten Morgen, wobei ihm anzumerken war, dass er sich langweilte. "Wohin seid ihr unterwegs?"
"Keine Ahnung", meinte Ro. "Ihr?"
"Pard", antwortete er und klopfte leicht auf seine Seite. "Damit ich endlich dieses Ding loswerde."
"Pard... warte, Pard?" Der Name liess irgendetwas in ihr klingeln. Seltsamerweise löste das Klingeln etwas aus, was nahe an Panik stand. "Wer ist Pard?"
"Ein Arzt", antwortete er. "Ziemlich gut, soweit ich weiss. Ist erst seit einem Jahr oder so hier."
"Woher kenn ich den Typen?", murmelte Ro.
Sie fand keine Antwort darauf und beschloss deshalb, Lesir bis zu seinem Ziel zu begleiten, um mal einen Blick auf diesen Arzt zu werfen. Vor einem Haus in der Innenstadt hielten sie an, die Wachmänner halfen Lesir aus dem Sattel und einer klopfte an die Tür, die nach einer Weile von einem verkatert wirkenden Dämonen geöffnet wurde.
Sein Anblick reichte Ro, um sich zu erinnern. Der Heiler in Lovit, der ihr Bein nach dem Schlag des Golem-Trolls wieder zusammengeflickt hatte. Das erklärte die Panik nicht ganz, aber sie kam nicht dahinter, woher sie rührte. So weit sie sich erinnern konnte, war ihr in Lovit so ziemlich jeder auf den Geist gegangen ausser diesem Arzt. Ok, und ausser Zorai. Der war in Ordnung.
Pard blickte missmutig in die Runde und sein Blick blieb an Lesir hängen, als müsste er irgendetwas in seinem Kopf sortieren. Offenbar war er damit erfolgreich, denn plötzlich meinte er: "Ran ist wieder da?!"
Ro erinnerte sich daran, warum ihr Lovit so auf die Nerven gegangen war.
"Sind alle wohlbehalten und an einem Stück zurück", antwortete Lesir leicht grinsend. "Bis auf mich."
Pard musterte ihn. "Ja?"
"Ich wurde zusammengeflickt und verbunden und... der Verband ist etwas seltsam, deshalb meinte Veray, du sollst mal einen Blick darauf..."
Pard winkte ihn hinein, ohne ihn ausreden zu lassen, dann erst bemerkte er Ro. "Na sowas. Darez' Tochter kreuzt bei mir auf. Und ein Halbblut in Drez. Sachen gibts. Braucht ihr auch was?"

Ro fiel der Rote Drache ein, aber sie gab die Frage grinsend weiter, nur schon weil der Arzt so verkatert aussah.
Seine Augenbrauen fuhren in die Höhe. "Zum Teufel, Kinder, es ist noch nicht einmal Mittag. Ich kann doch nicht verantworten, dass ihr euch jetzt schon betrinkt. Der Seewirt hat offen. So, und ich muss mich jetzt um den Patienten kümmern", fügte er missmutig hinzu, bevor er die Türe grusslos zuzog.
Ro beschloss, dass sie den Kerl mochte. Wie hielt jemand wie er es bloss in Lovit aus?

Sie hatte keine Ahnung, wie alt Pard war. Älter? Aber das war auch so praktisch jeder, der hier als Erwachsen galt.
Ro wusste nicht genau, wo der Seewirt war, aber sie fragten sich durch und fanden das Lokal, das direkt am Ufer lag, nur durch einen breiten Kiesstrand vom Wasser getrennt. Tatsächlich war es geöffnet, aber der Schankraum war relativ leer, als sie eintraten, nur eine Gruppe, die aussah wie eine Familie mit Kindern sass an einem der Tische und nahm ein spätes Frühstück zu sich. Vom Wirt war nichts zu sehen, doch als Ro auf den Tresen klopfte, kam er aus einem Hinterraum und wischte sich die Hände an der Schürze ab. "Hallo zusammen."
"Zwei Bier", meinte Ro grinsend.
Der Wirt nickte und griff sich zwei Krüge aus dem Regal, dann hielt er plötzlich inne und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. "Du bist von der Schwarzen Festung", stellte er fest.
"Korrekt", meinte Ro.
Er füllte die Krüge, schob sie ihnen über den Tresen und kassierte das Geld ein, bevor er sie grimmig ansah und knurrte: "Falls du Vakras Bastard nächstens siehst, richte ihm aus, er kann froh sein, dass sein Vater alles ausbügelt, was er anstellt, sonst bräuchte er sich hier nie wieder blicken lassen."
Sie legte irritiert den Kopf schräg und dachte nach. Was für ein Bastard? Hatte sie jemanden vergessen? "Wem soll ichs sagen? Rombra?"
Jetzt schien der Wirt verwirrt. "Was? Nein. Dem jungen Hitzkopf, Lesir, oder wie er heisst!"
"Aber der ist doch gar kein Bastard?"
"Das war metaphorisch gemeint!"
"Ach so", lachte Ro. "Dachte schon. Der einzige Bastard da bin nämlich ich, und ich bin nicht von Vakra." Sie schnappte sich ihren Krug. "Ich werds ihm ausrichten."