Ro wusste weder etwas von einem Vieh noch von einer Explosion. Das letzte, woran sie sich erinnern konnte, war, dass ihr jemand auf den Kopf geschlagen hatte und sie den Abhang hinunter gestürzt war. Von dem, was danach geschehen war, hatte sie keine Ahnung. Auch der Elf lebte noch. Sie stand auf und sah, wie der Dämon sich aufsetzte. Dann ertönte ein lauter Schrei.
Ro gefrohr das Blut in den Adern. Sie kannte diese Art von Schreien. Verzweiflung, Angst und Schmerz. Ein Todesschrei. Die Stimme war verzerrt, doch sie kam ihr bekannt vor. Aber wer...? Gillian. Verdammt! Ro rannte los. So schnell sie konnte, stürmte sie den Abhang hinauf, strauchelte und rannte weiter. Ihre Gedanken flogen. Wer brachte Gillian um? Hatten die anderen sie da oben allein gelassen mit den Soldaten? Irgendwie glaubte sie das nicht. Und vorher waren keine Kampfgeräusche zu hören gewesen. Nein, die Angreifer mussten tot sein. Aber wer dann?
Keuchend erreichte sie die obere Kante und zog ihren Säbel. Überall lagen Leichen, der Boden war mit Blut getränkt. Sie sah sich um. Das Feuer war erloschen, es war ziemlich dunkel. Wo...? Dann sah sie eine Bewegung auf der anderen Seite der Lichtung, das Blitzen von Metall. Eine Streitaxt. Der verrückte Zwerg. Sie sah das Funkeln des Wahnsinns in seinen Augen und wich automatisch einen Schritt zurück. Ihre Ferse trat über die Kante des Abhanges und nur mit Mühe konnte sie das Gleichgewicht halten. Verdammt, beinahe wäre sie noch einmal hinunter gefallen. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Als sie hinunter gefallen war, hatte ihr jemand auf den Kopf geschlagen. Es war keiner der Soldaten gewesen, die bewegten sich zu langsam für ihre Reaktionen und hätten sicher mit dem Schwert zugeschlagen. Ebenso der Zwerg. Er hätte ihr gleich den Schädel gespalten. Aber wer dann? Der Zwerg grinste sie immer noch an, doch er kam keinen Schritt auf sie zu.
Instinktiv und ohne recht zu wissen warum, sprang sie mit einer Hechtrolle zur Seite. An der Stelle, an der sie noch eben gestanden hatte, krachte etwas Schweres auf den Boden.

Ro kam aus der Rolle wieder auf die Füsse und biss die Zähne zusammen. Bei jedem Herzschlag schien sich ein Pfeil in ihren Kopf zu bohren. Sie streckte den Säbel in die Richtung aus, aus der sie gekommen war und sah dort einen Felsbrocken liegen. Nicht gerade die gewöhnlichste Angriffsmethode. Sie fuhr herum, um sich zu vergewissern, dass ihr nicht gerade der Zwerg in den Rücken fiel, dann sah sie sich um. Woher kam dieser verdammte Felsen.

Ro sah die Gestalten am Rand der Lichtung. Sie sah den Stein auf sich zurasen. Jede Reaktion wollte sie zwingen, wegzuspringen, aber ihre Beine waren wie am Boden festgeklebt. Einen Augenblick lang fragte sie sich, ob es vom Schlag auf den Kopf kam, dass sie plötzlich gelähmt war, dann wurde ihr klar, was hier ablief. Magie. Sie fletschte die Zähne. Sie hasste Magie wie die Pest. Nur Feiglinge kämpften mit Magie.
Sie war kein Feigling. Doch sie hatte keine Wahl. Der Felsbrocken kam viel zu schnell näher, als dass sie nach einer anderen Lösung hätte suchen können. Er würde sie zerquetschen wie eine Fliege, wenn sie nicht wegkam. Und sie kam nur weg, wenn sie das Band um ihre Füsse zerschlug. Sie wusste, das würde dumme Fragen nach sich ziehen. Aber sie beantwortete doch lieber diese Fragen, als zu verrecken. Sie hob ihren Säbel. Die Runen blitzten im Licht. Diese Klinge war uralt, vor Jahrhunderten geschmiedet und stets weitergegeben. Alt - und magisch. Der Stein kam immer näher. Sie schrie ein Wort, dessen Bedeutung sie selbst nicht wirklich verstand, umgriff das Heft mit beiden Händen und stiess die Säbelspitze in die Erde. Einen Augenblick lang zitterte der Boden, dann schoss ein Feuer durch ihre Füsse hinauf. Es schmerzte, als würden ihre Beine verkohlt, doch in Wahrheit verbrannte es die Fesseln. Schliesslich spürte sie durch den Schmerz hindurch, wie die unsichtbaren Ketten abfielen. Instinktiv liess sie sich fallen und rollte seitwärts weg. Sie spürte noch den Luftzug des Felsens, der vorbeiraste.

Ro rappelte sich einmal mehr auf, blieb jedoch nicht stehen, sondern hüpfte von einem Fuss auf den anderen, als stehe sie auf Kohlen. Sie hatte wusste zwar nicht, wie Magie funktionierte, aber aus irgendeinem Grund brauchte es, um eine solche Fessel aufzubauen, einen längeren Kontakt zwischen ihren Füssen und dem Boden, an den sie geklebt werden sollten. Und den verhinderte sie mit dem gehüpfe. Merkwürdig, wie sie sich plötzlich wieder an diese Tricks erinnerte. Ihr Vater hatte ihr nur ein einziges Mal erklärt, wie man gegen Magie ankämpfen konnte. In einer langen Winternacht, nachdem sein Bruder ihn zum zweiten Mal besucht hatte. Sonst hatte er nie über Magie gesprochen, denn er hatte eine tiefe Abneigung dagegen. Aber nach jener Begegnung fürchtete er wohl, auf was für Mittel seine Familie zurückgreifen würden. Und deshalb brachte er ihr bei, sich gegen Magie zu verteidigen, ohne selbst wirklich Magie zu wirken.
Hüpfend wandte Ro sich den Gestalten rings um die Lichtung zu. Dunkle Kapuzen waren tief in ihre Gesichter gezogen, doch langsam hoben sie den Kopf. Was aus dem dunklen Schatten zum Vorschein kam, war wie der Kopf einer Leiche: fahlweiss, mit verzerrten schwarzen Lippen, etwas wie Blut rann über das Kinn. Ro fühlte sich unwillkürlich an die Schauermärchen erinnert, die man ihr über Dämonen erzählt hatte, als sie noch klein war. Von denen sie später natürlich erfahren hatte, das sie überhaupt nicht stimmten. Das waren keine Dämonen, ihre Gesichtszüge waren die von Menschen. Aber warum gaben sie sich selber als Wesen aus den tiefsten Albträumen aus?

Die Gestalten murmelten einen merkwürdigen Singsang, bei dem es Ro kalt den Rücken hinunter lief. Was immer sie damit bezweckten, es war nichts Gutes. Und es war auch keine gute Idee zu warten, bis sie es vollendet hatten. Also gab es zwei Möglichkeiten: davonrennen, oder zuerst angreifen. Sie entschied sich für zweitere, denn davonrennen barg immer die Gefahr, im Rücken getroffen zu werden.
Sie sprang auf den nächsten Magier zu und hieb mit dem Säbel auf ihn ein. Die Klinge prallte etwa einen halben Schritt vor seinem Gesicht so abrurpt in der Luft ab, dass sie sie beinahe aus der Hand verlor. Irritiert schlug sie nochmal zu, wieder mit derselben Wirkung. Die Luft schien leicht zu flimmert, wo sie sie getroffen hatte. Erst dann dämmerte es ihr: ein magischer Schutzschild. Nein, verdammt, das war nicht fair! Zornig hieb sie darauf ein, ohne dass es etwas nützte. Die schwarzen Lippen des Magiers verzogen sich zu einem höhnischen Grinsen, ein weiterer Blutfaden rann dazwischen hervor.
Dann riss er plötzlich erschrocken die Augen auf. Ro brauchte einen Moment, um zu erkennen, was ihn so erschreckt hatte: In der Luft, dort wo sie seinen Schild getroffen hatte, zeichneten sich schwarze Linien ab. Schwarze Linien, die sich ausbreiteten wie Risse. Fasziniert betrachtete sie, wie der Schild zu bröckeln begann. Der Magier begann fieberhaft wieder zu murmeln und die Risse schlossen sich, wie eine Wunde, die verheilt.
Bald war nichts mehr zu sehen.
Doch nun grinste Ro. Sie brauchte dem Schild nur genug Wunden zuzufügen, und er würde fallen. Und nichts konnte sie besser als das. Sie holte aus und schlug zu, immer wieder, so schnell, dass sie selbst die Klinge nicht mehr sah.