Ro verabschiedete Ran und blickte ihr noch eine Weile nach, als sie nach Drez hinunterging. Dann schloss sie die Tür und ging langsam hinauf in ihr Zimmer. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Eigentlich war Ran gar nicht so schlimm, wenn sie nicht gerade das Gefühl hatte, alle herumkommandieren zu müssen. Trotzdem sagte ein Teil von ihr, das Ran ihr Feind war. Es... war ähnlich wie der Hass auf Nagareth. Nur nicht so stark. Sie war sich sicher, dass es etwas zu tun hatte damit, dass sie Unsterblich war, aber sie verstand es nicht ganz. Plötzlich kam ihr eine Idee. Es gab da jemanden - oder etwas - das es wissen musste. In ihr reifte eine Idee.
Am nächsten Tag beorderte Vakra sie erneut in die Halle. Vor versammelter Familie gab er bekannt, dass sie ihre Severjazka ein Jahr früher antreten würde als normalerweise üblich, und zwar auf den ersten März dieses Jahres. Nach dieser Ankündigung hielt er einen Moment inne, dann sagte er: "Ich habe zudem beschlossen, die üblichen Bestimmungen in einem weiteren Punkt zu ändern. Die Severjazka dient vor allem dazu, einen jungen Dämonen zu lehren, wie er auf sich alleine gestellt überlebt in der Welt. Aufgrund der Tatsache, dass du nicht hier im Clan aufgewachsen bist und nur einen Teil deines bisherigen Lebens bei Darez verbrachtest, hast du diese Aufgabe bereits gemeistert. Ich verkürze daher deine Severjazka von den üblichen sieben Jahren auf ein Jahr. Du wirst vom ersten März des neuen Jahres an genau ein Jahr lang aus der Schwarzen Festung und aus Drez verbannt sein, dann kannst du zurückkehren."
Ro musste sich zusammenreissen, um nicht die Augen zusammenzukneifen. Sie glaubte keinen Augenblick lang, dass Vakra das Tat, um ihr irgendetwas zu erleichtern. Er hatte etwas vor. Etwas, wozu er sie brauchte, so bald wie möglich.
Den Rest des Tages verbrachte Ro praktisch schlafend. Sie war völlig k.o. und das beginnende Verheilen der Peitscheinhiebe und der Wunden vom Drevn entzogen ihr den Rest Energie. Als sie am dritten Tag erwachte, fühlte sie sich wieder etwas besser, aber immer noch weit entfernt von wirklich gut. Sie hatte geträumt, von Nesh. Sie bekam nicht mehr jedesmal fast einen Weinkrampf, wenn sie an ihn dachte, aber weh tat es trotzdem.
Am Nachmittag erfuhr sie, dass Veray aufgewacht war. Sofort machte sie einen der Wachen ausfindig und brachte ihn irgendwie dazu, nach Drez hinunter zu laufen, um Ran zu holen. Offiziell hatte sie zwar keine Befehlsgewalt über die Wachen, aber sie konnte überzeugend sein, wenn sie wollte. Immerhin war sie Hauptmann einer Söldnerhorde gewesen.
Als sie Verays Zimmer betrat, lag er unter seiner Decke und drehte nur den Kopf, um zu sehen, wer hereinkam. Er war sehr bleich, selbst für einen Dämonen, und hatte tiefe Augenringe. Ro senkte den Kopf. "Es tut mir leid", sagte sie leise.
Veray musterte sie eine Weile lang stumm, sodass sie sich nicht sicher war, ob er überhaupt genug Kraft hatte, um zu sprechen, doch schliesslich sagte er heiser: "Ich weiss. Es tut dir immer leid, nicht war?"
Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie blickte zur Seite, damit er es nicht sah. "Nicht immer", sagte sie stockend. "Auf dem Schlachtfeld nicht. Da ist es nur manchmal... ein bisschen erschreckend."
"Du... du bist wie dein Vater", sagte Veray. "Geh! Geh, sobald du kannst. Du kannst nicht hier leben. Oder du wirst töten, und du wirst es bereuen."
Ro biss sich auf die Unterlippe. Er hatte recht. Auf eine Weise hatte er so verdammt recht. Aber war das wirklich ihr Schicksal? Dass sie niemals an einem Ort bleiben konnte, bei Leuten, die ihr etwas bedeuteten? Weil sie sonst Gefahr lief, genau diese Leute zu töten? Es war unfair. Sie wusste, dass die Leute es als kindisch betrachteten, wenn man das Schicksal als unfair empfand, aber sie fand schlicht keine anderen Worte dafür.
"Ran kommt wohl bald vorbei", sagte sie.
In Verays Augen leuchtete etwas auf, als sie das sagte, und es war dieses Leuchten, das ihr den Rest gab. Sie nuschelte irgendetwas, verliess den Raum und lief in ihr Zimmer. Dort rollte sie sich auf dem Bett zusammen und heulte.

Ro unterdrückte einen kläglichen Fluch und richtete sich auf. Sie atmete einige Male tief durch und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, dann trat sie zur Tür und öffnete. Sie sah den Wachmann und hätte ihn am liebsten zum Teufel gejagt.
"Veray ist wach", sagte sie zu Ran. "Ich schätze, er... wird sich freuen, dich zu sehen."
Es fiel ihr schwer, so etwas zu sagen. Ihr verdammtes Herz konnte es irgendwie nicht akzeptieren, dass andere verliebt waren, nachdem sie Nesh verloren hatte.

"Nichts", meinte Ro. "Nichts von Bedeutung."
Sie schloss die Tür hinter sich und ging mit Ran zusammen den Flur hinunter in Richtung Verays Zimmer. "Vakra hat mich auf Anfang März freigestellt", sagte sie. "Dann komme ich mit dir in den Osten. Aber es wird noch jemand mit uns reisen."

"Gut", meinte Ro. "Möglichst früh am morgen wär gut."
Soweit sie nämlich wusste, würde Vakra sie im Morgengrauen vor die Türe setzen. Und da sie nicht vorhatte, die Reise ohne ihren Seesack anzutreten, war es besser, sie kam ihm zuvor.

"Besser als gestern wohl", meinte Veray. "Auch wenn ich davon nicht viel mitbekommen habe."
Er lächelte. "Es tut gut, dich gesund und lebend wieder zu sehen."
Ro verdrückte sich aus dem Zimmer. Draussen lehnte sie sich gegen die Wand und rutschte langsam mit dem Rücken daran herunter - was nur dank der Rüstung nicht verdammt wehtat - bis sie am Boden sass.