"Und wenn wir kurz vor Sonnenuntergang über die Mauer sind, ist es dunkel oder mindestens dämmrig, bis wir unten ankommen", fügte Ro an. "Dann sollten wir durch die Reihen der Feinde kommen, weil die erwarten garantiert keinen Ausfall. Haben wir genug Seile?"

"Gut", meinte Ro. "In dem Fall brechen wir in drei Stunden auf." Sie sah die anderen beiden an. "Ich kann mich um die Wachen kümmern." Bei der Menge an Leuten, die ich hier umgebracht habe, spielen die zwei oder drei auch keine Rolle mehr, fügte sie in Gedanken an.

"Ok", meinte Ro und nickte langsam. Irgendwie hatte sie an die Möglichkeit gar nicht gedacht. Sie spürte plötzlich den Honigbrand. "Was machen wir bis dahin?"

Sie tranken alle was und gingen dann wieder hinauf auf dem Dachboden, um nicht aufzufallen, bis es Zeit war, aufzubrechen, und packten ihre Sachen.
Als die Sonne nicht mehr weit vom westlichen Horizont entfernt war, verliessen sie das Gasthaus. Ro trennte sich von den anderen, kurz bevor sie das Mauerstück erreichten und stieg die paar Stufen zum Wehrgang hinauf, der hier nur wenig über der Strassenhöhe war. Sie schlenderte ihn entlang, tat, als würde sie das Heerlager unten im Tal böse ansehen und sah sich dabei unauffällig nach weiteren Wachen um, konnte aber keine anderen entdecken als die, die Risk genannt hatte.
Die Stelle, an der sie runter wollten, war von weiter oben gesehen halb hinter einem Haus verborgen, und dort stand eine Wache, die sie würden ausschalten müssen, aber zuerst musdte sie sicherstellen, dass niemand mehr ihn einsehen konnte.
Sie stieg eine weitere Treppe hinauf zu einem höheren Mauerabschnitt und lehnte sich eben den Soldaten, der dort stand. Dem Wappen nach war er von der Nachtzinne. "Wir sitzen ziemlich in der Scheisse hier, oder?", fragte sie leise.
"Wenn die Stadt fällt, wird der Magier Armelion uns hier rausholen", sagte der Mann mit einer Mischung aus eingeredeter Hoffnung und Resignation.
"Wirklich?", fragte Ro. "Uns alle?"
"Ich weiss nicht ob er euch Söldner auch rettet", gab der Soldat zu.
"Naja, hoffen wir, dass es nicht nötig wird", meinte Ro und klopfte ihm auf die Schultern, während sie sich abdrehte, wie um hinter ihm hindurch weiter zu gehen, und den Dolch zog, um ihn dann ohne Vorwarnung am Helm zu packen, herumzureissen und ihm den Knauf mit alles Kraft seitlich gegen die Stirn zu hämmern. Sie holte aus, um ein zweiter Mal zuzuschlagen, aber er sackte bereits zusammen. Sie fing ihn halbwegs auf, damit es nicht zu sehr schepperte und legte ihn in den Schatten der Mauer, bevor sie die Treppe hinunter sprang. Jetzt musste es schnell gehen.

Es dauerte nicht lange, aber nun standen sie vor einem weitaus grösseren Problem: auf dieser Seite Kors klebte die Stadt am Felsen wie ein Bienennest, und die Mauern gingen praktisch nahtlos in beinahe senkrechte Felswände über, die zu hoch waren, um sich mal eben abzuseilen, zumindest mit den Seilen, die sie hatten. Und Kor verfügte zwar über ein Nordtor, aber das lag in einer höheren Ebene und wurde längst von den Feinden überwacht.
Also wählten sie einen Zwischenweg, schlichen durch die Gassen bis zum Ende der untersten Ebene und stiegen dort von der Mauer her in die Felswand ein. Von hier aus war es nur ein kurzes Stück, bevor sie zu einem etwas flacheren Hang kommen würden, auf dem sie tiefer oder höher hinauf gelangen konnten, aber über dieses kurze Stück hingen sie wohl einige hundert Meter über dem Ende der Hafenmole weit unten, und nichts war da, was ihren Sturz bremsen würde, was sie fielen.
Ro für ihren Teil machte es nichts aus. Sie war schwindelfrei, und sie wusste, dass sie klettern konnte, und der Fels hier schien stabil. Sie hoffte nur, dass es den anderen auch so ging, während sie vorausging, die Spitze ihrer Stiefel auf eine Kante stellte und mit den Händen nach Halt suchte, bevor sie sich von der Mauer weg zog.