Mit düsterer Laune erreichte Ran die Bibliothek. Sie fühlte sich leer und hasste dieses Gefühl. Als Akkaya konnte sie es vielleicht unterdrücken, oder besser formuliert wäre sie nicht im Stande es in diesem Mass zu spüren. Trauer. Sie war traurig über den Abschied. Leise stiess sie die Tür auf. Sofort konnte sie Achrats Präsenz fühlen und sie hörte Verays Schritte. Er schien sie nicht zu bemerken, also schlich sie auf leisen Sohlen hinter ihn. "Ich kann dir 'Leise singt die Nachtigal - das Wissen um vergessene Künste' empfehlen", sagte sie, sobald sie nur wenige Zentimeter von ihm entfernt stand. Sie lächelte, als er erschrocken herumfuhr.

Ran lächelte. "Weisst du, dass du für mich neben ihm immer wie ein kleiner Bruder warst?", fragte sie und deutete ihm besser Platz zu nehmen. Er verstand und setzte sich. Mit 'ihm' meinte sie ihren Bruder, der vor Jahrzehnten durch die Hand machtgieriger Magier starb. Seinen Namen, den ihres Bruders, nannte sie schon lange nicht mehr. Sie sass im Sessel gegenüber. "Ich werde fortgehen", sagte sie und ihr Blick wanderte über die unzähligen Bücher, die den Klang ihrer Stimme dämpften. Bevor er nachfragen konnte schnellten ihre schwarzen Augen zu ihm und hielten mit ihrer unendlichen Tiefe seinen Blick gefangen. Klar sah er zurück, die Augen so hell, als könnten sie jede Tiefe ergründen. So war es immer gewesen.
Er kannte den Blick, den sie ihm nur dann zuwarf, wenn sie ihm etwas wichtiges sagen wollte. "Zurück in den Osten... Jedenfalls kann es sein, dass ich nie wiederkehren werde... Ich wollte mich von euch verabschieden, weil ihr wie eine zweite Familie wart", sie machte eine Pause und fühlte die betretene Stimmung. Sie konnte all die Fragen, die in seinem Geist herumspukten beinahe auf der Haut spüren. Ran beobachtete seine Gedanken und konnte schon nach Sekundenbruchteilen das Wirrwarr nicht ertragen. Blitzartig packte sie ihn am Kragen und zog ihn ruckartig zu sich. Sanft drückte sie ihm einen Kuss auf die Stirn und liess ihn dann los. Der Kuss hatte seine Wirkung getan. Verays Gedanken waren zwar immer noch wirr, verliefen aber jetzt zu mindest in die selbe Richtung. "Du weisst, dass du alles fragen kannst", sagte sie im Tonfall einer vorwurfsvollen Schwester.

Ran seufzte. Dann weitete sie ihren Geist aus. Streckte ihn nach allen Seiten und spann die Welt ihrer Gedanken um ihn. Wieder wuchs blutrotes Gras aus der Erde, auf dem pechschwarzen Himmel prangte der ebenfalls blutige Vollmond. Ran streckte die blasse Hand nach ihm aus, leicht umwehte das leichte Kleid ihre Figur. Wie ein silberhaariger Geist sah sie aus. Wortlos nahm Veray ihre Hand und sie zeigte ihm im Traum ihre Geschichte. Nicht alles, aber einen Teil. Ihre Kindheit mit Growndrill und Karim, ihrem Grossvater und ihrem Bruder, dann ihr Leben in Loney. Sie liess dort einen Grossteil aus. Den Moment in dem sie realisierte was Unsterblichkeit bedeutete und ihre letzten Momente der Schlacht, in der sie ins Meer fiel und in den Bernstein geschlossen wurde. Dann kam ihre Kindheit als Ran und der Tag an dem sie zum zweiten Mal stand. Zum Schluss zeigte sie ihm Aion und May.
Als sie die Augen öffnete sass sie wieder Veray gegenüber. "Beantwortet das deine Frage?", fragte sie und schluckte, als sie ihn ansah, schien es als würde sie in Airons Augen blicken. Allgemein hatten Veray und Aion einigess gemeinsam. Vor allem die Sache mit ihrem unstillbaren Wissensdurst. Sie schluckte und ballte kurz eine Faust, bevor sie etwas dummes tat.

"Ich fürchte nicht die Magier, sondern mich selbst", antwortete sie. "Ich gehe in den Osten, wegen der Magierschule und damit ich die Schwarzmagier finde, die es im Moment auf mein Umfeld abgesehen haben." Sagte sie und neigte sich leicht vor. Er sah immer noch Aion sehr ähnlich. Woran lag das jetzt so plötzlich?

"Ich habe Angst an Ran zu zerbrechen und davor das Leid von damals wieder zu erleben", sagte sie und schluckte. Der Stein um ihren Hals glühte, aber sie wusste nicht wieso. "Ich kann nicht bleiben. Nicht hier", sagte sie und starrte zu Boden, das Verlangen unterdrückend erneut nach seinem Kragen zu greifen.