Ro drehte sich im Schlaf unruhig hin und her. Schliesslich fuhr sie auf. Keuchend starrte sie in die Dunkelheit. Irgendetwas stimmte nicht. Es war, als würde die Luft irgendwie zittern, wie eine gespannte Bogensehne. Sie bemerkte, dass sie den Griff ihres Säbels umklammert hielt. Vorsichtig löste sie die verkrampften Finger davon und das Gefühl verschwand sofort. Alles war normal, bis auf ein Donnergrollen. Moment, Donnergrollen? Es war mitten im Winter und arschkalt da draussen!
Sie fluchte, sprang auf und zog instinktiv ihren Säbel. Wieder diese Spannung. Magie. Was immer da draussen donnerte, es war nicht natürlich. Sie lief zum Fenster und öffnete eine Seite des Ladens. Schneidender Wind fuhr ihr entgegen, der Himmel war bedeckt von schwarzen Wolken, durch die ein vereinzelter Blitz schoss. Sie schloss den Laden wieder zu, riss die Türe auf und lief schlitternd den Flur entlang, die Treppe hinauf, bis sie keuchend die Luke öffnete und auf das Dach des Turmes sprang.
Von hier hatte sie den Überblick. Sie sah die merkwürdige Wolke. Und sie sah Ran am Fuss der Festung, mit dem Drachen, die beide gebannt in eine Richtung starrten. Sie bleckte die Zähne. Was zum Teufel stellte Ran da wieder an?

Ro duckte sich hinter die Zinnen und musterte den fremden Magier und das Ding, was er vorgeschickt hatte - was immer es auch war - und von dem nur noch ein zerschlissener Umhang übrig war, an dem der Gewitterwind zerrte. Sie fragte sich, was sie tun sollte, und ob sie überhaupt etwas tun sollte. Im Grunde konnte es ihr egal sein, warum sich die beiden Magier angriffen. Der beste Ausgang des Kampfes war, dass sich die beiden gegenseitig umbrachten, denn dann gab es zwei Magier weniger, die versuchten konnten, anderen ihren Willen aufzuzwingen. Nein, was sie zu tun hatte, war nur zu verhindern, dass die Festung und ihre Bewohner schaden namen. Und falls es einen Sieger im Kampf gab, diesen zum Teufel jagen.
Sie schwang sich über die Zinnen und kletterte eine Metallleiter hinunter, die auf das Hauptdach führte, das ebenfalls von einer Mauer umkränzt war. Die letzten zwei Meter liess sich sich fallen und duckte sich hinter die Zinnen. Jetzt war sie wesentlich näher am Geschehen, wenn auch immer noch sicher ein dutzend Meter darüber.

Ro merkte, dass sie den Säbel in der Hand hielt, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihn gezogen hatte, oder ob sie ihn niemals weggesteckt hatte. Allerdings - war sie mit einer Hand die Leiter hinunter geklettert? Sie war aufgestprungen, als der Magier auf sie zugeflogen war, auch wenn sie nicht sicher war, ob er sie hatte angreifen wollen, oder nur Distanz zu Ran gewinnen. Nun, jetzt wusste er vermutlich so oder so, dass sie hier war, denn stehend war sie grösser als die Mauer hoch.
Der Sturm hatte zugenommen und heulte zwischen den Zinnen, dazwischen erklang das Krachen des Donners. Weder Regen noch Schnee fiel, doch der Wind Trug Schneestaub von den umliegenden Bergen mit sich und fegte ihn um den schwarzen Stein. Ro blickte über die Brüstung und sah Ran und den Magier unten stehen. Sie schienen miteinander zu sprechen, aber Ro konnte sie durch den Wind nicht hören.
Sie sprang auf die Mauerkrone und erst im letzten - oder vielleicht zweitletzten - Moment fiel ihr ein, dass zwölf Meter verdammt noch mal wirklich zu hoch waren um zu springen. Schnell stieg sie wieder hinuner, bevor sie auf mehr dumme Ideen kamen. Stattdessen beschloss sie, wenn schon so viel Magie in der Luft lag, ein bisschen auszuprobieren. "Achkar", flüsterte sie ihrem Säbel zu. Sie spürte die Energie der Klinge, aber auch die Magie um sich herum. Sie war überall, in jedem kleinen Teilchen des Sturms. Langsam sickerte sie in den Säbel. Sie konzentrierte sich darauf, bis der Wind begann schwach zu werden und zu verstummen. Sie sah sich um. Nur in einem bestimmten Umkreis um sie hatte der Wind aufgehört, dahinter tobte er weiter. Soweit also reichte der Sog, wenn sie sich nicht stärker konzentrierte.

Ro konzentrierte sich stärker, mehr Magie strömte und der Windstille Kreis breitete sich aus. Hm, ob sie nur einen Kugelförmigen Raum beeinflussen konnte, oder auch gezielte Formen? Sie nahm die gedankliche Anstrengung zurück - es war ein wenig, als würde sie einen Muskel anspannen oder lockerlassen, nur irgendwie auch anders - und konzentrierte sich dann auf eine ganz bestimmte Stelle auf dem Dach. Sie sah genau, wo es Windstill war, denn nur dort wurde der Schnee, der auf dem Dach lag nicht aufgewirbelt. Es bildete sich nicht wie sie erwartet hatte, ein stiller Fleck an der Stelle, auf die sie sich konzentrierte, sondern ein Band dorthin. War eigentlich irgendwie logisch.
Sie drehte sich um und blickte auf die beiden Magier hinunter, die sich mit Blitzen beschossen, dass von der Hitze der Schnee schmolz. Ro richtete den Säbel auf den Ort und sog. Sie spürte verschiedenes. Die Blitze waren Magie, die Hitze, die sie umgab und die Flammen, die auf der verbrannten Erde tanzten normale Energie. Die Magie reagierte wesentlich schneller auf den Sog, aber nach ein, zwei Versuchen stellte sie fest, dass sie eine Energieart abblocken konnte und nur die anderen zu sich ziehen. Die Flammen auf dem Boden erstarben. Sie lächelte.
Für einen Augenblick fragte sie sich, ob sie verrückt war und sie die Magier nicht gerade absichtlich provozierte. Dann wurde ihr klar, dass die Frage nach ihrem Geisteszustand eigentlich hinfällig war. Sie kletterte auf die Mauer und richtete den Säbel auf die Kämpfenden. Der nächste, der Magie wirken wollte, würde sich etwas wundern.

Ro versuchte die Magie zu verstehen, die den Magier dazu brachte, an einem Ort zu verschwinden und am anderen wieder aufzutauchen. Es gelang ihr nicht ganz, aber sie spürte, dass sowohl an dem Ort, an dem er verschwand, als auch an dem, wo er auftauchte, eine komische Art von Magie freigesetzt wurde. Sie fragte sich, was geschah, wenn sie diese Magie einsog, noch bevor sie sich richtig entfalten konnte. Blieb er dann verschwunden?
Bevor sie dazu kam, es auszuprobieren - wobei sie vermutlich sowieso zu langsam gewesen wäre, um es zu schaffen - verschwand der Magier wieder. Gleichzeitig spürte sie Magie hinter sich. Sie fuhr in einer Bewegung herum, sprang auf das Dach hinunter und richtete ihren Säbel auf den Magier. Sein Umhang war merhfach zerschnitten und Blut tropfte in den weissen Schnee unter ihm. Blut im Schnee. Blut im Schnee, Blut im Schnee, Blut im Schnee... Die Worte drehten sich in ihrem Kopf. Schwarz, weiss, rot. Blut im Schnee.
"Hallo", sagte sie zu dem Magier. "Darf ich fragen, wofür du hier bist?"