"Verzeihung", sagte Nera. "Ich wollte dich nicht in einem ungelegenen Moment überraschen."
Nera's Erscheinung war stets streng und geordnet, und es machte dabei keinen Unterschied, ob sie sich für eine Zeremonie vorbereitet hatte, oder erst vor fünf Minuten auf dem Schlaf aufgeschreckt war. Ihre Haare waren straff zu einem Zopf geflochten, sie trug schlichte dunkle Kleidung und einen Lederharnisch, der aus einem Stück geformt war und wenig über ihre Figur verriet. Sie war nicht mehr jung und um ihre Mundwinkel lag ein scharfer Zug, nicht unähnlich dem, den auch Vakra trug. So streng wie ihre Erscheinung war auch ihre Stimme, direkt, klar und ein wenig distanziert, immer korrekt, aber selten freundlich.
Doch als sie die Türe hinter sich geschlossen hatte und zu sprechen begann, klang ihre Stimme anders. Schnell und leise fragte sie: "War er es wirklich?"

Der Schnitt füllte sich mit Blut. Sie liess den Säbel sinken. Das Blut rann über ihren Unterarm bis zum Handgelenk und tropfte auf den hellen Stein. Sie blickte auf in die Augen des Drachen und jetzt waren sie auf etwas gerichtet. "Das ist es, worin wir gleich sind", sagte sie, und ihre Lippen kräuselten sich. "Du bist genau so besessen davon, wie ich es bin."

Nera unterdrückte den Reflex, über die Schulter zu Blicken, als fürchtete sie, jemand könnte hinter ihr stehen. Ihr war nur zu bewusst, dass in diesem Haus manchmal selbst die nackten Wände Ohren hatten. Alles, was gesprochen wurde, konnte von irgendjemandem gehört werden. Und alles, was gehört wurde, gelangte früher oder später zu Vakra. Manchmal mochte es Jahre dauern, aber irgendwann erfuhr er es immer. Alles. Darin war er Meister.
Sie atmete tief ein, dann fragte sie direkt: "Hast du ihn getötet?"

"Was ist es?", fragte sie, und ihre Stimme schien die Welt zu füllen. "Ein bisschen Wasser, Salz, etwas, das es dick macht, nicht mehr, sagen die Alchemisten. Du und ich..." Sie sah dem Drachen tief in die Augen. "...wissen dass es mehr ist, viel mehr. Sier dir dieses Rot an. Es gibt kein Rot wie dieses. Es gibt keinen Geruch, keinen Geschmack wie diesen. Es gibt keine Flüssigkeit wie Blut." Ihre Stimme wurde noch eindringlicher. "Unser Blut ist das, was wir sind."
Der Blick des Drachen flackerte hin und her zwischen ihren Augen und den roten Tropfen auf dem hellen Stein, die langsam zu einer Lache verschmolzen. "Du bist verrückt danach", sagte sie. "So wie ich. Schliess einen Pakt mit mir. Einen Pakt zwischen meinem Volk und deiner Sippe. Einen Pakt von Blut."

Nera schüttelte den Kopf. "Warum hat er das nur getan?" Sie war sich nicht ganz sicher, wen sie meinte, ihren Sohn oder ihren Mann. Wobei, bei zweiterem brauchte sie die Frage nicht zu stellen, dort kannte sie die Antwort, er hatte es sie genug spüren lassen.
"Ich meine..." Sie sah Ran an. "...warum hat er sich mit einem Schwarzmagier eingelassen? Er war gewiss alt genug, um auch auf sich selber gestellt zu überleben."

"Was für ein Pakt?", hallte die Stimme des Drachen durch die Welten.
"Mein Blut", sagte Ro, und ihre Worte wogen schwerer als ein Berg. "Für deine Kraft. Und deine Kraft für meinen Willen."
"Was ist es, was du willst", fragte der Drache.
Sie bleckte die Zähne. "Ein Regen von Blut über dieses Land."

Nera schüttelte abermals den Kopf. "Er verwechselt Rache mit Dummheit. Vakra zu töten wäre Rache. Uns alle töten zu wollen, ist Dummheit. Aber hab keine Angst, Mädchen." Ihre Stimme wurde milder. "Wir sind hier nicht so wehrlos, wie du vielleicht denkst."

"So sei es", sprach der Drache.
Sie riss die Augen auf und schnappte nach Luft, als hätte sie vergessen zu atmen. Langsam richtete sie sich auf und starrte verwirrt um sich. Kein Drache. Kein Schnee. Kein Blut. Schwarze Mauern. Ein erloschenes Feuer. Sie kannte diesen Ort. Die Festung, die sie gebaut hatten, vor so langer Zeit. Der Säbel lag in ihrer Hand, scharf und glänzend wie eh und jeh. Alle Zeiten waren eins. Sie war zuhause. Sie legte sich hin und schlief wieder ein.

Veray hob eine Augenbraue, als er Nera sah. "Was machst du denn hier?"
"Ich begrüsse unseren Gast", sagte Nera kühl, als sie sich zu ihm umdrehte.
"Um diese Zeit?", fragte Veray misstrauisch. Er war sich ziemlich sicher, dass er genau wusste, warum sie hier war. Er wusste da jemanden, der darüber gar nicht erfreut sein würde.
Nera hob den Kopf und brachte es irgendwie fertig, ihn von oben herab anzusehen, obwohl sie ein Stück kleiner war als er. "Wenn hier einer jemandem Rechenschaft schuldig ist, dann du mir, Sohn!"
Veray zuckte fast zusammen. Warum gab es Leute, die selbst eine Verwandschaftsbezeichnung wie eine Beleidigung klingen lassen konnten? Er biss die Zähne zusammen und verkniff sich eine sehr böse Bemerkung. Sie waren nicht immer Feinde gewesen, sondern einfach Mutter und Sohn, wie andere auch. Bis er sich auf Vakras Seite gestellt hatte. Seither lagen sie in einem kalten Krieg, der daraus bestand, dass sie sich meistens ignorierten und aus dem Weg gingen, wenn es sich irgendwie vermeiden liess.
Veray wandte sich an Ran und gab ihr die Kleider: "Hier, das ist alles, was ich gefunden habe. Du musst halt sehen, was dir am besten passt davon."