#761

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 22.04.2013 20:53
von Arsór | 287 Beiträge

Winter 306:

Arsór ging zurück zum Lavagraben. Der Wächter auf der Insel war zusammen mit den drei Gegenständen verschwunden, entweder, er war Ûrakantór gefolgt, oder er hatte sich einfach aufgelöst, nachdem es nichts mehr zu bewachen gab. Arsór hatte keine Ahnung, wie er zum Spiegel auf der Insel gelangen sollte. Aber jemand anderes wusste es. Und dieser Jemand war in seinem eigenen Kopf.
Seit Wochen schon waren ihm Dinge zugeflüstert worden, Wissen, dass er gerade gebrauchen konnte und Merkwürdiges, dass ihm nicht aufgefallen war. Jetzt grade flüsterte dieses Etwas Arsór wieder etwas zu. Er hörte die Stimme nicht - es war eher so, als würde er sie denken. Allerdings konnte er den Gedanken weder vorrausahnen noch beeinflussen.
Er hob die Hand und nahm den Speer von seinem Rücken. Arsór erschrak, denn die Bewegung war nicht vom ihm ausgegangen. Er wollte den Speer wieder zurückstrecken, doch er konnte sich nicht bewegen.
Arsór - oder besser derjenige, der Arsór kontrollierte, ging näher zum Rand des Lavagrabens und rammte den Speer dort in den Boden, so mühelos, wie ein Messer durch Butter schneidet. Dann sprach er ein Wort, dass Arsór nicht kannte.
Von der Stelle aus, an der der Speer im Boden steckte, wurde der Boden schwarz, den Gang hinunter, soweit er sehen konnte, und auch über den Lavagraben. Dort verfärbte sich die Luft schwarz. Ohne zu zögern betrat Arsór den schwarzen, sich nicht bewegenden Teppich, nahm den Speer wieder in die Hand und ging sicheren Schrittes auf den Spiegel zu. Er spürte, dass das andere Bewusstsein fest an einen Ort dachte, den er nicht kannte. Ein hoher und breiter Saal ohne Fenster, der nur schwach von Fackeln beleuchtet war. Der Spiegel war nurnoch wenige Schritte entfernt und Arsór selbst dachte schnell an den ersten Ort, der ihm einfiel, da dieser Jemand in seinem Kopf keine Anstalten machte, anzuhalten. Er dachte an Kor, seine alte Heimat.
Einen winzigen Augenblick, bevor die Fußspitze von Arsór den Spiegel berührte, fiel ihm ein, was ihm über den Spiegel erklärt wurde. Wenn man an mehr als einen Ort dachte, würde man auseinandergerissen werden. Doch selbst erschrocken die Augen aufreißen konnte er nicht mehr.

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#762

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 28.04.2013 01:06
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Januar 307

Die Zeit verstrich, ein Tag nach dem anderen. Jeden Morgen stand sie bei Sonnenaufgang auf, zog ihre Rüstung an und schlang im Eiltempo eine Schale Brei hinunter, bevor sie an Verays Türe klopfte. Den Vormittag über unterrichtete er sie über die Dämonische Kultur. Zuerst erschien ihr alles nur wie eine willkürliche Ansammlung von unsinnigen Bräuchen und verstaubten Traditionen, aber je länger je mehr begann sie zu verstehen, was dahinter lag. Da war das Clanwesen, und deswegen die extrem starke Bindung an die Familie. Dann die grosse Bedeutung der Ehre: man war durchaus berechtigt, jemanden anzugreifen, der einen beleidigte, es wurde sogar von einem erwartet. Das verstand sie sehr gut, unter den Soldaten galten eigentlich die selben ungeschriebenen Gesetze.
Von da an wurde es mystischer. Da waren zum einen die Runen, deren Bedeutung sie nicht wirklich verstand. Wozu waren Schriftzeichen gut, wenn nicht, um etwas aufzuschreiben? Der zweite Grundsatz der dämonischen Tradition war ihr wesentlich klarer: das Feuer. Feuer hatte sie immer fasziniert, immerhin nannte sie es Feuer, wenn sie Instinktiv kämpfte, und es fühlte sich auch so an. Und sie erinnerte sich, was das Feuer in Ladril für eine Wirkung auf sie gehabt hatte. Der dritte Punkt, war das Blut. Blut war heilig. Heiliger als Feuer, heiliger als die Runen. Es war die Essenz dessen, was man war. Sie erschauerte unwillkürlich, als Veray diese Worte sagte. Sie kannte sie bereits. Es war, als hätte sie sie selbst gesagt.
Blut, Runen und Feuer. Es war im Grunde das, was sie schon ihr halbes Leben lang begleitete, nur dass anstelle der Runen Hass gewesen war. Konnte es sein, dass so etwas erblich war? Und was sie sich leise irgendwo im Hinterkopf fragte: war sie überhaupt teilweise Mensch? Oder hatte sie sich ihre Kindheit nur eingebildet? Oder warum war sie so getränkt von der Vergangenheit und dem Wesen der Dämonen, ohne etwas vergleichbares von der Menschlichen Seite zu haben? Hätte sie einmal wirklich darüber nachgedacht, wäre ihr klar geworden, was wirklich los war: Vakras Worte wurden wahr. Er machte aus ihr einen Dämon. Und wenn er ihr Blut auch nicht verändern konnte, dann zumindest ihren Geist.
Am Nachmittag ging sie nach Drez hinunter und trainierte mit Vron. Sie kämpften mit dem Säbel, mit Stöcken oder mit blosser Hand. Im Grunde spielte es kaum eine Rolle, was für eine Waffe sie in der Hand hatte, solange sie nur leicht genug war, um mit ihrem Tempo mit zu halten. An ihrem Kampfstil hatte sich im Grunde nicht viel geändert, er war schnell, präzis und instinktiv. Vielleicht noch etwas schneller und vor allem instinktiver, als bevor sie das Training begonnen hatte. Sie besiegte Vron nun meistens, oft mit Tricks, von denen sie zuvor nicht einmal etwas geahnt hatte, oder die sie als unmöglich bezeichnet hätte. Aber sie hatte begriffen, dass nichts unmöglich war, sondern alles nur eine Frage des Willens.
Nach einer Weile bat sie Vron, auch andere Waffen zu trainieren. Vor allem die Fernwaffen interessierten sie, denn sie hatte so gut wie keine Ahnung davon, und Schnelligkeit brachte ihr dort keinen Vorteil ein. Er erklärte sich einverstanden, und sie übte den Umgang mit der Armbrust, bis sie jedes Mal traf.
Nach dem Training ging sie nach Hause, ass zu Abend und lernte dann von Vakra Politik. Nachdem er ihr die Grundzüge von Bündnissen, Fehden und anderen protokollmässig festgelegten Beziehnungen zwischen Clans erklärt, und sie sich das Netzwerk der Schwarzen Festung eingeprägt hatte, begann er sie darin zu unterrichten, wie man richtig sprach, richtig Verträge aufsetzte und vieles anderes. Ihr war eigentlich klar, dass sie das als irgendein Clanmitglied wohl niemals wirklich würde können müssen, dennoch ging es verdammt lange, bis sie sich fragte, warum er ihr das überhaupt beibrachte.
Jeden vierten Abend ging sie ins Wirtshaus zum Roten Drachen und kämpfte gegen Demra. Ein oder zweimal, als er nicht da war, trat sie auch gegen einen anderen Asnet'Shar an, aber Demra war ihr Lieblingsgegner. Sie kämpften ähnlich und waren einander fast ebenbürtig, nur dass sie etwas mehr Erfahrung hatte, obwohl sie jünger war.
Wenn sie nicht kämpften, fragte er sie aus. Zuerst antwortete sie ausweichend, aber dann begann sie zu erzählen, vom Krieg, vom Kampf, von jeder einzelnen Schlacht, die sie geschlagen hatte, seit sie in das Heer eingetreten war. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie sich so genau daran erinnern konnte. Manchmal berichtete sie auch vom Leben im Lager, aber von Darez erzählte sie nichts, ausser, dass er Hauptmann gewesen war, und schon gar nichts von Nesh oder von der Zeit, als sie nicht Söldner gewesen war. Demra schien es egal zu sein, dass sie vieles ausliess, oder es viel ihm gar nicht auf. Er saugte ihre Worte in sich auf, als würde er davon leben, und seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz, wenn sie erzählte.
Es wurde noch kälter und mehr Schnee fiel, sodass sie sich an manchen Mittagen ihren Weg nach Drez hinunter durch einen halben Meter Neuschnee bahnen musste. Es machte ihr nichts aus. Es machte ihr auch nichts aus, dass ihr Tagesablauf so durchstrukturiert war, dass sie kaum jemals Zeit hatte, in der nicht bestimmt war, was sie zu tun hatte. Was hätte sie denn sonst tun sollen? Nachdenken? Dazu waren die Nächte lange genug. Sie schlief wenig. Manchmal las sie. Manchmal besuchte sie Machek.


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#763

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 28.04.2013 18:50
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Vier Tage, nachdem sie ihm zum ersten Mal Bücher gebracht hatte, ging sie wieder zu Machek hinunter. Es war längst weit nach Mitternacht, aber er war wach, oder er hatte einen sehr leichten Schlaf, denn als sie die Türe öffnete, sass er auf dem Bett und blickte ihr entgegen. Er begrüsste sie, noch bevor sie irgendein Wort sagen konnte, dann legte er eine Hand auf den Stapel von Büchern. "Gute Bücher. Ich wusste nicht, dass die schwarze Festung eine so gut ausgestattete Bibliothek hat."
Sie blickte zwischen ihm und den Büchern hin und her. Er hatte sie nicht ernsthaft schon gelesen, oder? Offenbar doch, denn er fuhr fort: "Könntest du mir vielleicht, wenn es dir nichts ausmacht, mehr von dem Thema hier bringen?"
Er hob das oberste Buch auf und reichte es ihr. Sie steckte die Fackel in einen Halter, schlug den Einband auf und las den Titel. "Die Urspungsmythen der Menschen vom Langen See - Vergleiche und Bezüge zu ihrer Umwelt", stand da. Sie hob den Blick. "Du interessierst dich für... Religion?"
"Ich interessiere mich dafür, warum und wie Religionen entstanden sind. Dieses Buch legt dazu einige sehr interessante Theorien dar. Besonders dort im Fünften Kapitel, wie hiess es noch gleich, mit der Überschwemmung..." Er sah sie ratsuchend an, dann bemerkte er ihren entgeisterten Blick. "Was?"
"Äh... ich habe das Buch nicht gelesen, weisst du?"
"Nicht?" Er schien ehrlich überrascht.
Sie begann zu lachen. "Ich kann doch kaum lesen."
Er wirkte ziemlich perplex. "Wirklich jetzt?"
"Ja", sagte sie lachend und liess sich auf den Stuhl am Tisch im Gegenüber fallen. "Ich bin froh, wenn ich in einer Stunde eine Seite schaffe."
Sie nahm die Bücher eins nach dem anderen zur Hand und sah die Titel durch. Da war eines über Elfische Lyrik und ein Werk über Geometrie, darunter die beiden über dämonische Kultur. "Du kannst mir ja erzählen, was darin steht", meinte sie grinsend.
"Sicher nicht!", meinte er empört. "Dann würde ich dich ja daran hindern, schneller lesen zu lernen."
Sie drehte den Band, den sie in der Hand hielt und betrachtete ihn von allen Seiten. "Lohnen die sich denn überhaupt zum Lesen?"
"Das über die Religionen auf jeden Fall", meinte Machek. "Auch wenn es etwas kompliziert ist. Das mit den Gedichten würd ich dir eher nicht empfehlen. Es ist sehr ausführlich und ziemlich langatmig geschrieben. Und Geometrie... nun, man muss sich dafür interessieren, sonst ist es langweilig, aber wenn du zahlen und logische Abläufe magst, solltest du es lesen."
Sie grinste über seine ernste Antwort. Sie hatte die Frage eigentlich überhaupt nicht ernst gemeint. In ihren Augen lohnte es sich nicht, irgendein Buch zu lesen, ausser es enthielt ganz konkret Informationen, die sie brauchte. "Und die hier?", fragte sie, während sie die beiden Bände Dämonenkultur zur Hand nahm.
Machek zuckte mit den Schultern. "Das untere ist besser geschrieben als das obere."
Sie sah ihn an. "Aber du magst den Inhalt nicht, oder?"
Er sagte nichts darauf.


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#764

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 28.04.2013 21:32
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

"Wieso verabscheust du die Dämonen?", fragte sie direkt.
"Ich verabscheue sie nicht", meinte er seufzend. "Aber ich bin kein Dämon mehr. Ich weiss, dass kannst du kaum nachvollziehen, ich sehe schliesslich immer noch aus wie einer, und ich habe den Körper eines Dämonen, aber mein Geist ist ein anderer."
"Und was ist dein Geist?", fragte sie.
"Ein Magier", antwortete er.
"Was zeichnet den Geist eines Magiers aus, dass er so anders ist, als der eines Dämons?"
Er schien nachzudenken. "Ehrgeiz", sagte er schliesslich. "Was einen Magier sein Leben lang vorantreibt ist der Ehrgeiz, besser zu sein, der beste, wenn es ihm irgend möglich sein könnte."
"Ehrgeiz ist auch ein Wesenszug der Dämonen", antwortete Ro. "Jeder Dämon strebt im Grunde Perfektion an, sei es im Kampf mit dem Säbel, im Spiel mit der Politik oder im Sammeln von Wissen."
Wieder überlegte Machek. "Die Dämonen, besonders die Alten Familien, klammern sich so sehr an den Traditionen fest. Ein Magier klammert sich nicht an das Alte, wenn das Neue besser ist. Er entscheidet nach Logik, nicht nach Tradition."
"Aber wenn das Alte besser ist als das Neue, dann ist es logisch, sich an das Alte zu halten", erwiderte Ro. "Unsere Traditionen sind gemacht für unser Volk. Was nützt es uns, wenn wir die Gebräuche der Elfen oder Menschen übernehmen, wenn sie uns nicht weiterbringen? Wir sind kein Volk von Erfindern. Wir sind kein Volk von weisen Gelehrten. Und wir sind kein Volk von Handwerkern. Wir sind ein Volk von Kriegern, das ist unsere Stärke, und darauf müssen wir uns konzentrieren, wenn wir nicht untergehen wollen."
Diesmal schwieg Machek länger. Schliesslich sagte er: "Die Gesellschaft der Dämonen ist viel zu eingeschränkt. Tausende von Regeln, von Protokollen, die eingehalten müssen, um keine Fehde auszulösen."
"Was dem Dämonen die Gesetze und Protokolle sind, sind dem Magier die Formeln und Zauber", antwortete Ro. "Ihr haltet euch an diese Vorgaben, weil ihr ein Ziel erreichen wollt. Dasselbe tut ein Dämon, der die Regeln einhält. Jedem Dämon steht frei, sich von allem zu lösen und Vrenasz zu werden, so wie es jedem Magier freisteht, sich nicht um die Techniken der Magie zu kümmern. Aber keiner von beiden wird etwas erreichen. Der Dämon nicht Ehre und Ansehen der Gemeinschaft, der Magier nicht Perfektion in der Magie."
Darauf sagte Machek nichts mehr.
Sie stand auf, nahm die Bücher und ging zur Türe. "Ich werde dir morgen neue bringen", sagte sie, schloss hinter sich ab und ging davon.
Machek blieb zurück in der Dunkelheit und versuchte zu verstehen, was gerade geschehen war. Mit wenigen Worten hatte Ro es fertig gebracht, dass er ernsthaft daran zweifelte, wer er eigentlich war.


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#765

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 30.04.2013 21:27
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Einige Tage später ass sie mit Veray in der Küche zu Mittag. Sie sassen sich gegenüber, sahen sich aber weder gross an, noch redeten sie. Ro musterte Veray unauffällig. Er schien darüber hinweggekommen zu sein, dass Ran abgehauen war, oder zumindest merkte man ihm nichts mehr an. Er war zwar nachdenklich, aber das war er auch vorher gewesen.
Plötzlich schien er aus irgendwelchen Gedanken in die Realität zurück zu kommen, sah sie an und fragte: "Wie alt bist du eigentlich genau?"
Sie hatte mit dieser Frage schon lange gerechnet, seit er ihr die Severjakza erklärt hatte, und sich eigentlich gewundert, dass er sie nicht früher gestellt hatte. "Zwanzig", antwortete sie. "Naja, fast."
Er runzelte die Stirn. "Warte mal. Du hast mir schon vor über einem Jahr gesagt, dass du neunzehn bist."
Sie verzog das Gesicht. "Da war ich auch fast neunzehn."
"Wann wirst du genau zwanzig?", fragte er.
"Bald", meinte sie. "Gegen Ende des Winters. In ein, zwei Monaten."
"Wann genau?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiss nicht, an welchem Tag."
Er nickte.
Sie ass einen Löffel voll, dann fragte sie: "Gibt es eigentlich eine Möglichkeit, eine Severjakza zu verschieben?"
"Theoretisch ja", meinte Veray. "Wenn es dafür einen Grund gibt und das Familienoberhaupt einverstanden ist. Wieso? Willst du sie verschieben?"
Sie zuckte mit den Schultern. "Ich weiss nicht. War nur eine Idee."
Sie wusste es eigentlich sehr genau, aber das brauchte Veray nicht zu wissen. Das ging nur sie und Vakra etwas an.


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#766

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 05.05.2013 22:15
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

An diesem Abend war sie früher als sonst im Roten Drachen, denn Vron hatte sich nach der Hälfte der üblichen Trainingsdauer verabschiedet, weil er jemanden besuchen wollte. Von den Asnet'Shar war noch niemand da, Demra würde vermutlich erst in fast zwei Stunden kommen. Sie blickte sich um, und kniff die Augen zusammen, als sie den Mann sah. Sie trat schnurstracks zu seinem Tisch und fragte: "Wo ist die Hütte?"
Der Mann hob den Kopf und musterte sie verwirrt von Kopf bis Fuss. "Ah, du. Guten Abend. Was für eine Hütte?"
"Ja ich", meinte sie, und fügte etwas verspätet hinzu: "Guten Abend. Die Hütte, in der mein Vater mit seiner Frau gelebt hat."
Er beschrieb es ihr, so gut er es wusste, fügte aber hinzu, dass er niemals selber dort gewesen sei. "Bei zügigem Marsch braucht man einen vollen Tag von Drez in das Tal hinauf", schloss er. "Du willst dorthin, oder?"
Sie nickte.
"Ich kann dir nicht versprechen, dass du dort noch etwas findest", meinte er. "Es ist über achzig Jahre her, seit er dort gewohnt hat. Die Hütte wird völlig verfallen sein."
"Das macht nichts", antwortete Ro. Sie würde gehen. Sie wusste nicht, warum, was sie dort zu finden hoffte, aber sie würde gehen.


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#767

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 09.05.2013 14:15
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Anstatt weiter auf Demra zu warten, ging sie nach Hause. Die Festung wirkte still und verlassen obwohl es noch früh am Abend war. Sie ging durch die leeren Flure und zum ersten Mal stellte sie sich vor, wie ihr Vater durch diese selben Flure gegangen war als junger Mann, vor über hundert Jahren. Hundert Jahre waren so lange, aber sie glaubte nicht, dass sich seither vieles verändert hatte. Es waren noch die selben schwarzen Mauern, die Fackeln, die an der Wand brannten, die Türen, die sich auf dunkle, leere Räume öffneten. Jetzt war Vakra der Herr der Festung, damals war Vorsza es gewesen, Darez' Vater. War Darez damals gewesen wie sie jetzt? Hatte er so gedacht wie sie jetzt dachte? Alle sagten, sie sei wie er. Aber war sie es wirklich? Ihr wurde klar, dass sie Darez niemals wirklich gekannt hatte. Die sieben Jahre, die sie bei ihm gelebt hatte, waren ein so kleiner Teil seines Lebens gewesen. Da war so viel Vergangenheit, die sie nicht verstand. Sie wollte verstehen, aber er konnte es ihr nicht mehr erklären.
Sie ging auf die Bibliothek zu und öffnete lautlos die Türe einen spaltbreit. Am anderen Ende des langen, von Regalen gefüllten Raums, sah sie ein Licht brennen und Veray, der in einem Sessel sass, die Füsse auf ein Tischchen gelegt, und in einem Buch las. Er hatte konzentriert die Stirn gerunzelt und war so vertieft, dass er sie nicht bemerkte. Sie fragte sich, warum er das tat. Er hatte doch alle diese Bücher schon gelesen. Warum las er sie wieder und wieder? Selbst wenn er nichts anderes tun mochte als lesen, es gab doch noch andere Bücher auf der Welt, als diese hier. Sie dachte sich, dass sie ihm irgendwann einmal den Vorschlag machen musste, nach Ladril zu gehen und sich die Bibliothek dort anzusehen. Es würde nicht einfach werden, denn ihm sah man definitiv an, dass er ein Dämon war, aber irgendwie würde sie es schon fertig bringen, ihn dort einzuschleusen.
Sie schloss die Türe ebenso leise wieder und ging in ihr Zimmer. Sie öffnete den Schrank und nahm ihren Seesack heraus. Es war noch alles darin, was sie mitgebracht hatte. Sie packte eine dicke Wolldecke dazu, dann schlich sie sich in die Küche hinunter und suchte sich Esswaren für eine Woche, Wasser und etwas Met zusammen. Nachdem sie alles gepackt hatte, setzte sie sich auf die Bettkante und wartete.
Einige Zeit nach Mitternacht verliess sie das Zimmer wieder. Noch immer brannte Licht in der Bibliothek. Sie setzte sich in einem schattigen Winkel des Flurs auf den Boden und starrte auf den Boden. Als sie nach einer Weile den Kopf hob, sah sie Achrat vor sich stehen. Er sah sie an. Sie fragte sich, ob er ihre Gedanken las. Vermutlich ja. Dann wusste er, was sie vorhatte. Aber er wusste auch, warum sie es tun wollte, und deshalb würde er es niemandem sagen. Sie erwiderte seinen Blick ohne mit der Wimper zu zucken, bis er weiterging.
Schliesslich erlosch das Licht in der Bibliothek und schliesslich hörte sie die Türe von Verays Arbeitszimmer gehen und seine Schritte, als er im Nebenflur zu seinem Zimmer ging. Sie stand auf trat in die Bibliothek. Im Dunkeln tastete sie sich zum Schreibtisch am Kamin, zündete eine Kerze an, fand ein Stück Papier und schrieb darauf: Ich bin fort. Werde in drei oder vier Tagen wieder hier sein. Ich muss etwas klären. Ro.
Sie legte das Papier so hin, dass Veray es sofort finden würde, blies die Kerze aus, holte ihr Gepäck und ging.


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#768

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 09.05.2013 23:34
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Der Dämon behielt recht. Als sie über einige Felsen auf den Boden, auf dem die Hütte stehen musste, hinaufstieg, zeigten sich im sanften Morgenlicht lediglich noch einige Mauern von dem Haus, in dem einst ihr Vater gelebt hatte. Ein kleiner Bach führte nicht weit davon ins Tal hinunter, aber er war still, zu Eis erstarrt in der Kälte des Winters. Alles war schneebedeckt.
Ro überquerte den Bach auf einigen Steinen, die aus dem Eis ragten und ging auf die Ruine zu. Ihre Schritte zögerten. Sie fürchtete sich, davor, was sie in der Hütte sehen würde, dass der Boden noch immer blutgetränkt sein würde, die Leichen noch immer dalagen, obwohl sie wusste, dass es nicht sein konnte. Man hatte sie bestimmt begraben, und selbst wenn nicht, nach achzig Jahren war alles Blut weg von von den Toten kaum noch Knochen übrig. Dennoch hatte sie Angst.
Es knackte unter ihren Füssen, als sie auf die Überreste einer aus den Angeln gefallenen Türe trat, dann holte sie Luft und trat durch die Öffnung in der Mauer, in der die Türe einst gehangen hatte, ein. Kein Blut. Keine Leichen. Nur Schnee, der den Boden bedeckte, und die Balken des eingestürzten Daches, die daraus hervorragten. Die Hütte hatte einmal aus zwei Räumen bestanden. Im Hauptraum, in dem sie stand, war ein gemauerter Herd, dessen Schornstein wie eine düstere Säule in den Himmel ragte, und halt unter dem Schnee und den Balken verborgen konnte sie die Überreste eines Tisches und einer Bank ausmachen.
Vorsichtig stieg sie über die Trümmer und trat in den zweiten Raum. Hier waren zwei Betten, noch fast intakt. Lange stand Ro nur da und starrte darauf, bevor sie wieder in den Hauptraum zurückkehrte. Sie begann den Schnee mit ihren Stiefeln zur Seite zu schieben, um zu sehen, ob etwas darunter war, irgendetwas. Sie fand eine verrostete Schöpfkelle und einen verlöcherten, aufgeborstenen Stiefel, sonst nichts. Tränen traten ihr in die Augen. Sie liess sich in die Hocke sinken und begann zu weinen. Was hatte sie erwartet? Sie wusste es im Grunde. Ihr Herz hatte gehofft, sie würde die Hütte ganz vorfinden, mit Rauch, der aus dem Schornstein aufstieg. Dass sie Darez hier finden würde, mit seiner Frau und seinem Kind. Sie vergrub das Gesicht in ihren Händen. Warum war das Herz so grausam, etwas zu hoffen, was niemals sein konnte?


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#769

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 11.05.2013 00:50
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

Sie verbrachte die Nacht in ihren Mantel und die Wolldecke gewickelt unter freiem Himmel, zusammengerollt im Rahmen des Bettes, das einmal das ihres Vaters und seiner Frau gewesen sein musste. Die Nacht war eiskalt und sternenklar. Sie frohr trotz der warmen Kleider, die sie angezogen hatte, trotz der Decke und obwohl sie die Hände und Füsse so nahe an ihren Körper zog, wie sie konnte, aber sie dachte nicht an die Kälte. Sie starrte zum Himmel über ihr und sah die Sterne dort oben funkeln in ihrem kalten Glanz. Die Sterne waren ewig. Alles verging, aber die Sterne blieben. War es wirklich so? Musste sich nicht alles ändern, alles irgendwann untergehen? Gab es Ewigkeit überhaupt, wirkliche Ewigkeit? War nicht das, was man als Ewigkeit bezeichnete, einfach eine so lange Zeitspanne, dass niemand sie sich vorstellen konnte, aber die doch irgendwann ein Ende hatte? Die Sterne gaben ihr keine Antwort auf die Fragen, die sie hatte. Irgendwann versanken sie im Dunkel des Schlafes.
Als sie am zweiten Morgen erwachte, ass sie etwas, dann machte sie sich an der Hütte zu schaffen. Sie begann damit, den Schnee weg zu fegen, dann stemmte sie die Balken hoch, einen nach dem anderen, und schob sie über die Mauern der Hütte nach draussen. Es war schwere Arbeit, sie riss sich die Hände auf an dem splitternden Holz und ihre Kraft reichte kaum aus, aber sie war nicht bereit, aufzugeben, solange sie den Platz zwischen den Mauern nicht freigeräumt hatte von allen Trümmern. Denn erst dann konnte sie sehen, was darunter lag. Erst dann konnte sie sehen, ob es nicht irgendwelche Spuren gab, irgendetwas, das die Zeit überdauert hatte, dass ihr von Darez erzählte, oder von dem, was damals passiert war.
Am Nachmittag fand sie eine Truhe, aber es dauerte zwei weitere Stunden, bis sie den letzten Balken, der darauf lag, weggebracht hatte, denn er hatte sich irgendwie verkeilt. Als sie es endlich geschafft hatte und den Deckel anheben wollte, stellte sie fest, dass er verschlossen war. Ihre Finger zitterten vor Kälte und so brauchte sie eine halbe Ewigkeit, bis sie das Schloss geknackt hatte mit dem einfachen Dietrich, den sie bei sich trug. Dann öffnete sie die Truhe. Sie war nur halb voll, mit verschiedenen Dingen. Das meiste waren Kleider. Ro faltete eines der Hemden auseinander und stellte fest, dass es Frauenkleider sein mussten. Der Stoff war weich und an den Rändern mit feinen Bordüren geschmückt.
Ro faltete es sorgfältig zusammen und legte es zurück, dann schloss sie die Truhe wieder und widmete sich dem nächsten Balken.


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#770

RE: Drez (Stadt der Schattendämonen)

in Dreitan - das Spiel 12.05.2013 15:21
von Ro Raven | 10.532 Beiträge

In der zweiten Nacht hörte sie die Wölfe heulen. Mal klangen ihre Rufe ferner, dann wieder näher, hallten von den Bergen wieder und verklangen in der kalten Nacht. Sie zog ihren Säbel und hielt ihn in der Hand neben sich. Sie konnte sich damit sicher gegen ein halbes Dutzend verteidigen, wenn sie nicht alle gleichzeitig angriffen. Aber wenn es mehr waren, wenn sie sie angriffen, dann war es vermutlich vorbei. Dann war sie tot. Ihr wurde bewusst, dass sie keine Angst hatte. Wie auch. Der Tod war ihr Freund. Sie konnte jederzeit zu ihm gehen, wenn sie es wollte. Diese Erkenntnis gab ihr eine innere Ruhe, wie kein Glück es vermochte.
Und plötzlich wurde ihr etwas klar, etwas, das seit Monaten an ihr nagte. Sie hatte immer gedacht, ihr Vater sei wirklich alt gewesen, als er gestorben war. Dass er sich deshalb bereitwillig in den Tod gestürzt hatte, weil sein Leben und seine Kraft sich ihrem Ende genähert hatten. Sie hatte das akzeptiert, denn sie konnte es verstehen. Aber seit sie in Drez war, hatte sie viele Dämonen gesehen, die viel älter waren als er. Auch Vron war älter, und doch war er immer noch einer der besten Kämpfer. Natürlich konnte es sein, dass Darez schneller gealtert war, weil er getrunken hatte. Aber nun verstand sie, dass er sie damals angelogen hatte. Hätte er die Wunde verheilen lassen, wäre er noch jahrzehntelang besser gewesen als jeder andere Soldat auf dem Schlachtfeld. Die Wahrheit war, dass er hatte sterben wollen, und diese Wahrheit brach über ihr zusammen wie Wellen aus Feuer. Der Tod war Darez Freund gewesen, wie er ihrer war. Er hatte ihn sein Leben lang neben sich gespürt. Und in all den Jahren, die er allein als Dämon unter Menschen gelebt hatte, die zwar nicht wussten, was er war, aber doch merkten, dass er irgendwie anders war, war der Tod sein einziger Freund geworden. Sie begriff, dass Darez den Tod gesucht hatte, in jeder einzelnen, verdammten Schlacht. Er war zu stolz gewesen, schlechter zu kämpfen als er konnte, deshalb hatte er trotz allem so lange gelebt. Aber als sich die Möglichkeit ergeben hatte, zu sterben ohne aufzugeben, hatte er sie ergriffen.
Tränen liefen über ihre Wangen, Tränen von Trauer, aber auch von Wut. Er hätte weiterleben können, aber er hatte es nicht getan, nur weil er es nicht wollte. Er hatte sie alleine gelassen, nur weil er dem Tod folgen wollte. Er hatte sie einfach allein gelassen! Sie sprang auf und schrie ihre Wut in die Nacht hinaus. Sie schrie, er solle ihr eine Antwort geben, warum er das getan hatte. Aber natürlich bekam sie keine Antwort. Sie liess sich mit dem Rücken der Wand entlang hinunterrutschen und rollte sich weinend zusammen.


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