"Es sind keine Waffen, und ich kann sie nicht finden", antwortete Dreshar knapp.
Er sah Rions enttäuschte Mine und lächelte schmal. "Tut mir leid, Bruder, aber es gibt kein neues Wundermittel. Wir haben nichts ausser uns, unsere Bögen und unseren Mut."

"Bringt mich ins Herz", sagte Dreshar. "Zu meinen Leuten. Aber der Rat darf nicht merken, dass ich hier bin. Noch nicht. Ist das möglich?"

Sie schlichen eine ganze Weile durch Gänge und Räume, bis sie einer Treppe in Richtung oben folgten. Die Treppe endete an einer offenstehenden Schleuse, die sie durchquerten, dann bedeutete Rion ihnen, dass sie lautlos sein mussten, als sie an einem Seitenkorridor verbeihuschten, aus dem Licht drang. Dreshar war sich, sofern sein Orientierungssinn ihn nicht im Stich liess, relativ sicher, dass er in Richtung von Aions Labor führte. Sie forschten also tatsächlich da unten.
Nach einigen weiteren Korridoren und einer langen Treppe, bedeutete Rion ihnen stehen zu bleiben und huschte ein Stück voraus. Es dauerte nicht lange, bis er zurückkam und Dreshar näher winkte. "In der Halle vorne steht eine Wache. Es ist Ilgaraï. Er steht auf unserer Seite."
Dreshar nickte. Er kannte Ilgaraï.
"Wir kommen nicht weiter mit", sagte Rion und deutete auf sich und Seposh. "Das Risiko, dass sie uns fangen, ist uns zu gross."
Dreshar nickte abermals, fasste sie beide an den Schultern und drückte sie.
"Danke", sagte er, dann machte er sich alleine auf den Weg den Korridor hinunter. Auf die Krücke gestützt humpelte er vorwärts in Richtung des Lichtes am Ende des Ganges. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen, seine Nervosität und seine Angst davor, was passierte, wenn er versagte, niederzuringen. Er wusste, von dem Moment an, in dem er Ilgaraï gegenüber trat, gab es kein zurück mehr. Er atmete tief durch, verliess den Korridor und humpelte in die offene Halle.
Ilgaraï, der vor dem Tor in der Wand gegenüber stand, sah ihn sofort, aber er erkannte ihn nicht. Dreshar sah, wie er alarmiert den Bogen hob, als er sah, dass er verletzt war, und mit einem Handzeichen fragte: Wirst du verfolgt?
Nein, antwortete er auf die selbe Weise.
Ilgaraï wartete, bis er näher heran war, dann fragte er leise: "Was ist passiert? Bist du verletzt?"
Dreshar hob den Kopf so weit, dass Ilgaraï sein Gesicht sehen konnte. "Ich bins, Ilgaraï."
Ilgaraï schien einen Augenblick lang zu erstarren und Dreshar wusste auch ohne es zu sehen, dass er die Augen aufriss. "Dreshar!"

Sie wechselten nicht viele Worte.
"Kannst du mich reinbringen?", fragte Dreshar schliesslich.
"Ich kann den Posten hier nicht leerlassen", meinte Ilgaraï zögernd.
Dreshar nickte. "Das ist klar. Aber kannst du mir sagen, wo ich lang gehen muss, damit ich zu den anderen komme?"
"Ohne, dass dich der Rat...?"
Dreshar nickte.
Ilgaraï dachte nach. Dann nannte er ihm eine Abfolge von Türen und schmalen rückwärtigen Korridoren. "sie versammeln sich manchmal da, auch wenn ich nicht weiss, ob jetzt jemand dort ist."
"Danke, Bruder", sagte Dreshar und umarmte ihn kurz.
"Lass dich nicht erwischen", sagte Ilgaraï leise.
Dreshar folgte seinen Anweisungen und obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte, so laut, dass er glaubte, man müsste es durch die Gänge hallen hören, blieb er unentdeckt. Schliesslich erreichte er den Raum, von dem Ilgaraï gesprochen hatte. Er war leer.
Dreshar setzte sich auf einen Stuhl und wartete.

Es dauerte etwa eine halbe Stunde, bis jemand eintrat. Sie waren zu dritt, Inshura, Tanduin und Alassi. Einen Augenblick lang zuckten sie zusammen als sie ihn dasitzen sahen, in der abgerissenen Tiefenjäger-Uniform und mit der Krücke in der Hand und er sah, wie ihre Finger unwillkürlich zu den Bögen fuhren.
"Wer...?", begann Alassi, aber bevor sie weiter sprechen konnte, zog er die Kapuze zurück. "Ich frue mich, euch wieder zu sehen."

"Gerne", sagte Dreshar erleichter und stand auf.

Etwa zwei Stunden später sass er frisch gebadet und in der grünen Sommeruniform der Aussenwächter, die ja eigentlich die seine war, im Kreis seiner engsten Freunde und erzählte, was ihm widerfahren war.
Er begann damit wie er Elira und Kraigor aufgegriffen hatte, umsie nach Tanue zu geleiten und erzählte von den Seelensplittern, die sie suchten, und die Erinnerungen Aions waren. Dann erzählte er, wie sie nach dem Verhör durch den Rat in die Tiefen hinunter gestiegen waren, um weitere Splitter zu suchen, und kam schliesslich zu den Dingen, die er dort erfahren hatte. Er erzählte, wie er seinem Vater begegnet war - dass der Mann sein Vater war, war dabei nebensächlich - und wie jener ihm von den früheren Expeditionen des Rates erzählt hatte.
Ein Raunen und Schnauben ging durch die Runde, als er die Vertuschungsversuche des Rates offenlegte. Sie hatten es nicht gewusst, aber keiner von ihnen erwartete mehr gutes vom Rat.
Dann erzählte er, was er über Aion und die Kriecher erfahren hatte und diesmal waren die Reaktionen heftiger. Einige wollten es zuerst nicht glauben. Warum sollte Aion so etwas tun? Warum sollte er ihnen das angetan haben? Warum Tanue zerstört?
"Aion wusste nichts, von den Jahrhunderten, die kommen würden", antwortete Dreshar. "Er war ein Forscher, ein kreativer Geist. Er machte Experimente, und die Kriecher sind eines seiner Resultate. Wir sind ein anderes. Er konnte von keinem von beiden wissen, wohin es sich entwickeln würde. Ihr kennt unsere Geschichte. Wir hätten fliehen können, wie die Gelehrten. Er konnte nicht wissen, dass wir eines Tages hier stehen würden, im ständigen Kampf gegen seine Kreaturen. Er hat erschaffen, gutes wie böses. Es ist an uns zu bestimmen, was davon siegt."
Er berichtete weiter, fasste seine Reise in den Osten zusammen, zu Akkaya, Aions Frau, der Unsterblichen. Er erzählte von der Hoffnung, die er in sie gesetzt hatte, dass sie die Wahrheit bringen würde, weil sie sie kannte, dass sie ihnen vielleicht mit ihrer Macht gegen die Kriecher helfen würde. "Sie wird hierherkommen, im November", schloss er. "Aber ich weiss nicht, was sie tun wird, ob sie gegen die Kriecher kämpfen wird, oder ob sie sich ihrer Verantwortung als Göttin entzieht. Ich fürchte der Hauptgrund, warum sie kommt, wird nur sein, die Seelensplitter zu holen", gab er zu und blickte in die Runde. "Ich weiss, manche von euch fragen sich, warum wir ihr die Splitter geben sollen, wenn sie Erinnerungen unseres Gottes sind. Aber ich frage euch ehrlich: was sollten wir denn damit tun? Die Antworten, die wir brauchen für unseren Kampf, liegen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart und in der Zukunft."
Er sah die Männer und Frauen, die ihn umgaben an und wartete auf irgendeine Reaktion. Er hoffte, dass er seine Worte richtig gewählt hatte, denn er hatte keine Ahnung.