Eine Stunde kniete Idril auf einer Lichtung und versuchte einen Siebenschläfer zu überzeugen sich streicheln zu lassen. Das kleine graue Tier hatte allerdings kein Interesse daran und sprang nach ein paar Minuten wieder in Bäume, als es begriff, dass das kleine Mädchen ihm keine Nüsse geben würde.
Narum war auf der anderen Seite der Lichtung und suchte irgendwelche Pflanzen, als sie plötzlich eine vertraute Präsenz spürte. Kurz darauf hörte sie das Schlagen von grossen Flügeln, bevor eine prächtige Greifin vor Idril auf der Lichtung landete. "Eiswolke!", schrie sie freudig und rannte auf die Greifin zu. Sie klapperte freudig mit dem Schnabel und stiess das Mädchen so hart an, dass sie über den Boden kullerte. Idril lachte übermütig und fuhr ihr mit einer Hand über die Brust, nachdem sie sich wieder aufgerappelt hatte. Eiswolke rieb ihren grossen Kopf an Idrils Seite und ein überwältigendes Gefühl der Freude durchströmte das Kind. Allerdings war da auch Zorn. Verdutzt hielt sie inne, bis ein scharfer kleiner Schnabel sie in den Kopf piekte.
"Au! Lass das!" Sie griff nach oben und bekam eine kleine, eben flügge gewordene Misteldrossel zu fassen. Der kleine Vogel zwitscherte wütend und pickte ihr in den Finger, worauf Idril sie mit einem kleinen Schmerzensschrei losliess. "Ich habe dich im Kloster gelassen weil ich dich nicht mitnehmen konnte.", erklärte sie und lutschte an ihrem Finger. Die Misteldrossel flog rüber zu Narum und liess sich auf die Schulter des Magiers nieder, wo sie anfing ihr Gefieder zu putzen. Sie würdigte Idril keines Blickes.

Narum beobachtete das Geschehen belustigt und hielt der Drossel eine Hand voll Körner hin, die das Tier gerne annahm. Er hatte die Greifin vollkommen vergessen gehabt, aber das Tier kam ihm gerade recht. "Eiswolke kann hinten in der Höhle der Phönixe ihr Nest bauen, aber es wäre gut, wenn sie wo anders jagen würde", meinte er und kraulte den Piepmatz auf seinem Finger hinter dem Ohr.

"Warum denn?", fragte Idril und kraulte Eiswolke im Nacken. Ihre Arme verschwanden dabei vollkommen im Gefieder der Greifin.

"Weil sie nur grosse Tiere als Beute hat. Wenn sie zu viele dort reisst, vermehren sich die kleineren Arten viel mehr und schneller. Die Pflanzen können nicht mithalten und dann hat niemand mehr zu fressen und der Urwald in der Höhle würde verschwinden", erklärte er und hob den Korb hoch. "So und jetzt solltest du weiter üben. Wir haben leider nicht sehr viel Zeit."

"Hmmm.", brummelte sie missmutig, liess jedoch von der Greifin ab und zeigte ihr einige geistige Bilder. Die Greifin schlug ein paar mal mit den Flügeln und schwang sich dann in die Lüfte. Idril lief zu Narum, schmuggelte ihre Hand in die Seine und folgte ihm dann zurück in die Höhlen. "Hast du irgendwelche Bücher über wie man Greifen pflegt? Sie hat wegen ihrer langen Gefangenschaft immer noch Ungeziefer in den Federn, wenn auch nicht mehr so viele."

"Es gibt sehr wenige Leute, die Greifen halten, um sie zu pflegen... Ich kann aber Mal nachsehen. Hmm sie könnte sich aber in Sand baden... Viele Vögel werden ihr Ungeziefer so los", meinte er. "Am besten du beobachtest sie und andere Tiere, vielleicht kannst du dann selber irgendwann mal ein Buch schreiben", meinte er. Nach einer Weile fragte er dann völlig unvermittelt, was Idril davon halten würde Janis nach Donsoha einzuladen.

"Janis?", fragte sie unsicher. "Die Priesterin aus Lovit?" Sie verknotete nervös die Finger. Sie wollte die Priesterin wiedersehen, doch sie fürchtete sich auch ein wenig davor. Sie war ihr sicher böse, weil sie einfach so verschwunden war. Dennoch... sie vermisste die Priesterin. "Ja...", sagte sie schliesslich. "Ich würde sie gerne wiedersehen."

"Dann schreiben wir ihr später am besten mal einen Brief", meinte Narum gut gelaunt. Es war schwierig für Idril eine Mutter zu finden, aber Refala hatte sein Wort.

Mitte August (dh 3-4 Wochen später)

Er sass in seinem Bett und las. Das war etwas von dem wenigen mit dem er sich die Zeit hatte vertreiben können. Die Magier nannten ihn Arndir, was so viel wie Verwundeter Mann hiess. Ihn kümmerte es nicht. Idril hatte ihm versichert, dass die meisten Menschen kein elfisch übersetzen konnten, daher war Arndir vorläufig ein guter Name. Er war auch passend. Er besass keinerlei Erinnerungen ausser an die Zeit der Folter. Die Schmerzen selbst waren mittlerweile fast vergangen. Einzig seine linke Hand machte ihm zu schaffen. Der Wundbrand war dort so weit fortgeschritten, dass sie sie ihm hatten müssen. Seine Rechte war hingegen wieder völlig in Ordnung. Verstohlen strich er über den Griff des Schwertes, das an seiner Seite hing. Er legte es nie für lange Zeit ab. Immer wenn er es tat, fühlte er sich unwohl und war nervös. Es war als ob ein Stück von ihm fehlte.

Idril trippelte nervös von einem Fuss auf den anderen. Janis könnte nun jeden Tag hier ankommen. Sie freute und fürchtete sich gleichzeitig ein wenig vor dem Treffen mit der Priesterin aus Loney. Eiswolke stupste die kleine Elfe mit dem Schnabel an und das Mädchen schmiegte sich eng an die Greifin, die daraufhin wie eine Taube gurrte. Nur dass das Gurren einer Taube nicht den Boden zu erschüttern schien.
Sie wusste, dass es langsam Zeit wurde zurückzukehren. Narum wartete sicher schon auf sie. Sie fuhr Eiswolke noch ein letztes Mal mit der Hand über den Hals und lief dann wieder in den Wald. Ein paar Hornissen summten um sie herum und liessen sich auf ihrem Kopf nieder. Der Bienenstock, den sie den Insekten zur Verfügung gestellt hatte, war beinahe voll von den Tieren. Sie war froh, dass sie so gut gediehen. Sie fand ihren Lehrmeister am Höhleneingang vor und lächelte ihn breit an. Mittlerweile hatte sie die Schrecken ihrer Flucht und Biredhs Kampf mit den Schwarzmagiern fast wieder vergessen. Sie hatte zwar noch immer Alpträume, doch wenn sie wieder einmal schweissnass aufwachte, konnte sie sich in Narums Bett kuscheln.
Er führte sie durch das komplexe Höhlensystem zurück nach Donsoha. Als sie nach draussen traten, wartete Ragnar bereits mit einem breiten Grinsen auf sie und neben ihm stand Janis. Die zierliche Priesterin aus Lovit sah sich unsicher um, doch als sie Idril erkannte, breitete sich ein warmes Lächeln auf ihren Zügen aus und in ihre Augen traten Tränen. Ein wenig unsicher klammerte sich das Mädchen an Narum fest, der sie jedoch bestimmt aber sanft nach vorne schob. Vorsichtig trat Idril auf Janis zu. Nervös die Finger ineinander verknotend trat das Mädchen auf die Priesterin zu und schluckte. "Ich...", begann sie leise, kam jedoch nicht weiter, da sie von Janis gepackt und umarmt wurde. Ein leises Schluchzen entfuhr der Priesterin, als sie das Kind an sich drückte und Idril blickte so gut es ging zu ihr hoch. "Warum weinst du?"
"Ich bin nur froh dich zu sehen.", erwiderte Janis erstickt.

Narum lächelte ob der Szenerie. Er hatte vielleicht wirklich richtig entschieden. Nachdem die beiden genug Zeit gehabt hatten, sich zu begrüßen, begrüßte auch er Janis und hieß sie in Donsoha willkommen. Er bedankte sich auch für ihr Kommen und bat Ragnar ihr die Stadt zu zeigen, da er sich noch um den Verwundeten Mann kümmern musste.
Er strich Idril zum Abschied übers Haar und ermahnte sie mit einem fast spitzbübishen Lächeln dazu brav zu sein. Dann verabschiedete er sich.

Er fand Arndir auf seinem Bett vor und setzte sich zu ihm. "Ich glaube es wird Zeit dir dein Gesicht zurück zu geben", meinte er freundlich. "Ich werde dir heute den Verband abnehmen und die Narben so gut es geht verheilen lassen. Wenn du einverstanden bist. Morgen werden wir beginnen deine Hand nachwachsen zu lassen."