Machek drehte das Amulett ziwschen den Fingern und durchforstete seine Erinnerung. Er wollte nichts sagen, bevor er nicht zumindest selber daran glaubte, dass die Möglichkeit real war. Er hatte dieses Zeichen irgendwo einmal gesehen. Er hatte irgendwo einmal etwas über solche Amulette gelesen. Aber konnte er sich noch an die Worte erinnern?
Er konnte es. Blieb nur die Frage, ob die Legenden stimmten. Eine zweifelhafte Hoffnung, die er dem jungen Dämonen eigentlich nicht machen wollte. Dennoch murmelte er leise. "Vielleicht gibt es noch eine Chance."
Er umschloss das Amulett fest mit der Faust, schloss die Augen und begann zu singen. Das Elfische ging ihm nicht leicht über die Lippen und er stockte mehrmals, aber irgendwie brachte er die Worte zu stande. "Hüterin des Lebens, Hüterin des Lichts, ich bitte dich, hilf mir! Beschützerin der Schwachen, Heilerin der Kranken, hör meine Bitte!"
Nichts geschah, und er wollte abbrechen und aufgeben, weil es so sinnlos war, was er da tat, doch dann spürte er plötzlich, dass sich im Feld der Magie um sie herum etwas veränderte, als würde die Realität eine Krümmung bekommen und etwas daraus hervortreten.
Er öffnete die Augen und sah eine Gestalt über den Steinen schweben, schimmernd und halb durchscheinend. Es war eine Elfe von altersloser Schönheit, ihre langen Haare schwebten um sie wie in einem Wind, der auch an ihren weiten, hellen Kleidern zog.
"Warum rufst du mich, Machek?", fragte ihre Stimme in seinem Kopf.

"Wegen ihr", antwortete Machek und nickte hinunter auf Ro.
Die Elfe sah die junge Halbdämonin an, bevor sie ihren Blick wieder auf ihn richtete. "Warum sollte ich ihr helfen?", fragte sie. "Sie hat in ihrem Leben nur Tod über die Welt gebracht, und sie wird es weiter tun."
"Sie kennt nichts anderes", antwortete Machek. "Gib ihr eine Chance, das Gute zu sehen."
Verenja zögerte. "Ich kann es versuchen", sagte sie schliesslich. "Wenn du mir dafür etwas versprichst, Machek."
Machek nickte.
"Gründe eine Schule", sagte sie. "Eine Schule, die Magier wie auch andere unterrichtet. Die sie Magie lehrt, aber auch das Gute. Die forscht, aber mit Moral. In der der Fortschritt gewünscht wird, um helfen zu können."
Machek nickte abermals. "Ich werde es tun."
Verenja breitete die Hände über Ro's Körper aus.
"Kannst du sie heilen?", fragte Machek.
Verenja seufzte. "Ich kann ihren Körper heilen", sagte sie. "Aber ich kann sie nicht zwingen zu leben."
Machek wusste, was sie meinte, er hatte Ro's Haltung gegenüber dem Tod gehört in der Zelle der schwarzen Festung. Ein Teil von ihm war drauf und dran sie anzuschreien, sie solle sich verdammt nochmal zusammenreissen, aber er beherrschte sich. "Tu es trotzdem", sagte er.
Verenja nickte. Sie senkte ihre Hände tiefer und ein merkwürdiger Glanz erstrahlte, ausgehend von ihren Handflächen, wie Licht, das aus einer anderen Dimension brach. Es rieselte hinunter auf Ro und hüllte sie ein. Durch den Schimmer sah Machek, wie verdrehte Gelenke in ihre richtige Position rückten, Wunden sich schlossen.
Nach einer geraumen Weile verblasste das Licht schliesslich und Verenja nahm die Hände zurück. "Sie wird sehr schwach sein", sagte sie. "Und ich habe ihr die Möglichkeit gegeben, zu leben, aber du musst sie davon überzeugen, es zu wollen."
Mit diesen Worten begann sie zu verblassen. Machek kniete nur ehrfürchtig da und starrte auf die Stelle, an der sie eben gewesen war.

"Das...", meinte Machek. "...war eine lebende Legende."
Er nickte zu Alastars Vorschlag zu verschwinden und musterte Ro. Sie hatte sich nicht gerührt, ihr Atem und ihr Herzschlag waren regelmässig, aber schwach, als kämen sie von weit her. Was würde sie dazu bringen, zurückzukehren?
Er wusste nichts. Vielleicht war er schlicht zu alt, zu nahe am eigenen Ende, um jemand anderem das Leben schmackhaft zu machen. Er biss sich auf die Lippen und sah Alastar an.
"Verenja... sie hat ihren Körper geheilt, aber ich glaube, ihr Geist ist bereits über das hinaus, was Lebende normalerweise zu Gesicht bekommen. Weisst du, was sie dazu bringen könnte, zurückzukehren?"

Machek musste Alastar zugestehen, dass die Idee vielversprechender war als alles, was ihm in den Sinn gekommen war. Gespannt sah er zu, wie der Dunkelschatten den Säbel an sich nahm und wartete auf Ro's Reaktion.
Sie rührte sich nicht. Sie wachte nicht auf. Aber ihre Finger zuckten, als wollten sie dem Heft der Waffe folgen. Es sah zwar mehr aus wie ein Reflex als wie eine bewusste Handlung, aber es bewies, dass ein Teil von ihr noch spürte, was vorging.
"Ro komm zurück!", rief er fast wütend. "Du hast eine zweite Chance bekommen, also nutze sie!"

Ro sank. In eine dunkle Tiefe. Dunkel und still. Und warm. Wie eine Umarmung. Drovan. Dunkelheit, Geborgenheit, Tod. Sie war sicher. Nichts konnte ihr mehr geschehen. Kein Leid, kein Kummer, kein Verlust. Alles war gut. Endlich. Endlich war alles vorbei.
Dann hörte sie Worte. Sie klangen durch die Stille, wie von weit, weit her. Es dauerte lange, bis sie die Stimme erkannte. Noch viel länger, bis sie ihren Sinn verstand. Sie blieb stumm. Nein, sie wollte nicht. Sie wollte nicht mehr.
Doch die Worte bissen sich in ihr fest. Du hast eine zweite Chance. Eine zweite Chance. Eine Chance, noch einmal von vorne zu beginnen. Eine Chance, noch einmal Leute zu finden, die ihr etwas bedeuteten. Und sie diesmal zu schützen, koste es was es wolle. Eine Chance, alles besser zu machen.
Sie begriff. Der Tod würde immer auf sie warten. Er würde in zehn Jahren noch der selbe sein, in fünfzig, in hundert. Er würde immer da sein, und sie mit offenen Armen empfangen. Sie verpasste nichts, wenn sie ihm noch eine Weile fern blieb. Aber jede Sekunde Leben gab es nur einmal. Jede von ihnen war eine Chance, Glück zu sehen. Und auch falls es ihr nie begegnete: der Tod am Ende würde der selbe sein, die selbe Geborgenheit, die selbe heilende Stille.
Sie schlug die ausgestreckte Hand des Lebens ein und liess sich hinaufziehen aus der Dunkelheit, zurück ins Licht.
Die Empfindung, einen Körper zu besitzen, kehrte zurück. Sie spürte Schmerz, aber nur Dumpf, wie bei Fieber oder Überanstrengung. Sie spürte die Kraft, die es brauchte, um zu Atmen. Mühsam öffnete sie die Augen. Sie sah Machek und Alastar und hinter ihnen den Himmel. Ihre Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.
Dann spürte sie das Blut in ihrer Lunge und ihrer Kehle und bekam einen Hustenanfall.

Sie schluckte dankbar und versuchte sich instinktiv aufzurappeln, aber sie brachte nicht einmal die Kraft auf, die Arme zu heben. Hätte Alastar sie nicht festgehalten, wäre sie einfach hintenübergekippt.
Machek blickte nach oben hoch, zur Felswand, und glaubte in dem Loch einige Gestalten zu sehen. Er war sich ziemlich sicher, dass die Magier sie nicht aus Rache angreifen würden, aber wenn sie noch lange hier blieben, vielleicht aus Angst.